Angriff auf die
Gehirne
Ein amerikanischer
Bericht weist auf die Menge an Neurotoxinen hin, die jährlich
von der Industrie abgegeben werden und zu neurologischen Störungen
wie Lern-, Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstörungen führen
können
Schätzungsweise
12 Millionen Tonnen an Chemikalien werden jährlich von der
amerikanischen Industrie in die Luft oder das Wasser abgegeben,
die bei Kindern körperlicheoder geistige Schäden hervorrufen
können. Bei der Mehrzahl der über 80000 im Handel befindlichen
Chemikalien ist allerdings noch gar nicht bekannt, welche Auswirkungen
diese haben. Während in der Wissensgesellschaft also Bildung
immer höher angesetzt wird,kann bislang die Industrie noch
deren wichtigstes Organ, das Gehirn, ohne große Kontrolle
schädigen. In Europa sieht die Lage auch nicht anders aus.
Nach dem
Bericht Polluting Our Future: Chemical emisions in the U.S. that
Affect Child Development and Learning [1], der vom National Environmental
Trust, von den Physicians for Social Responsibility und der Learning
Disabilities Association herausgegeben wurde, könnten Chemikalien
in der Umwelt für zahlreiche Entwicklungsschäden und neurologische
Störungen bei Kindern verantwortlich sein.
Nach den
Angaben, die die Firmen der amerikanischen Umweltbehörde 1998
gegeben haben,wurden 600 Millionen Kilogramm giftiger Stoffe in
die Luft und das Wasser abgegeben. Von über der Hälfte
der angegebenen Chemikalien wisse oder vermute man, dass sie schädlich
für die körperliche und geistige Entwicklung sein können.
Allerdings werden nur etwa 5 Prozent aller chemischen Emissionen
der Behörde gemeldet. Natürlich ist die Chemiebranche
bei der Umweltverschmutzung mit Toxinen führend, aber auch
Papier-, Metall- und Plastikfabriken sowie Müllverbrennungsanlagen
zur Stromerzeugung sind beteiligt.
Als
besonders bedenklich wird die Druckindustrie bezeichnet, da sie
die größte Menge an Toluol abgibt. Das ist ein aromatischer
Kohlenwasserstoff, der als Lösemittel eingesetzt wird und sich
vorwiegend auf das zentrale Nervensystem auswirkt, aber auch zu
Leber- und Nierenschädigungen führen kann. Auswirkungen
von Toluol: Narkotisierend; unspezifische Reaktionen des zentralen
Nervensystems; Konfusion; Ataxie (ungeschickte, unzweckmäßige
Muskelbewegung bis zur Bewegungsunfähigkeit); Zittern; Gangunsicherheit;
schnelle Zuckungen der Gliedmaßen; bizarres Verhalten; emotionale
Veränderungen;Kleinhirnausfälle; Alkoholunverträglichkeit;
verwaschene Sprache,Konzentrationsschwäche. Da viele Druckereien
kleine oder mittlere Betriebe seien,würden sie oft auch näher
an Wohnvierteln liegen als andere Betriebe und daher für Kinder
gefährlicher sein.
Hervorgehoben
wird von dem Bericht, dass in vielen der amerikanischen Bundesstaaten,
die die höchste Belastung durch Toxine aufweisen, der Anteil
der schwarzen Bevölkerung höher als durchschnittlich sei.
Welche Schädigungen genau durch die Giftstoffe, die zudem meist
in Kombination auftreten und deren Wirkungen sich addieren können,
verursacht werden, ist noch weitgehend unbekannt. Die meisten der
80000 chemischen Stoffe, die hergestellt werden, wurden noch nicht
einmal auf ihre neurologischen Auswirkungen überprüft.
Der Bericht geht davon aus, dass die Toxine zumindest teilweise
die Ursache für den beobachteten Anstieg der Säuglinge
mit einem sehr geringen Gewicht bei jungen Müttern, der Frühgeburten,
des Autismus oder der Aufmerksamkeitsstörung (attention deficit
hyperactivity disorder - ADHD) sind. "Viele Wissenschaftler ind
der Meinung, dass sie eine Epidemie an Lern- und Verhaltensstörungen
bei Kindern beobachten können. Die Zunahme, die oft anekdotisch
von Lehrern und anderen Betreuern von Kindern berichtet wird, kann
einem wirklichen Wachstum, einer besseren Entdeckung oder einer
verbesserten Meldung zuzuschreiben sein. Die meisten Forscher glauben
allerdings, dass es ein Ergebnis der Kombination aller drei Gründe
ist."
12 Millionen
oder 17 Prozent der amerikanischen Kinder haben nach Schätzung
des U.S. Census Bureau Entwicklungs-, Lern- oder Verhaltensstörungen.
Die National Academy of Sciences geht davon aus, dass drei Prozent
aller Gehirn- und Entwicklungsschäden bei Kindern durch bekannte
toxische Substanzen wie Tabakrauch, Blei, Quecksilber oder PCBs
zurückzuführen sind. Das würde bedeuten, dass dies
bei 360000 Kindern der Fall sei. Der Bericht vermutet aber, dass
die Auswirkungen der Toxine viel größer sind, weil es
sich bei dieser Schätzung lediglich um bekannte Toxine handelt
und weil die National Academy of Sciences davon ausgeht, dass ein
Viertel aller Gehirn- und Entwicklungsschäden durch Umweltfaktoren
in Kombination mit einer genetischen Veranlagung verursacht werden.
"Das Beunruhigendste
daran ist", so Jeff Wise vom National Environment Trust [2], "die
Menge und wie wenig wir über die Chemikalien wissen." Kritisiert
wird, dass Chemikalien bislang vorwiegend auf ihre krebserzeugende
Wirkung untersucht worden seien, während die Auswirkungen auf
das Gehirn unbeachtet geblieben sind. Vielleicht ging man ja früher
davon aus, dass Chemikalien nur den Körper, nicht aber unseren
Geist schädigen können
Der Bericht "Pesticide
exposure and risk of mild cognitive dysfunction", der in der Zeitschrift
The Lancet [3] (356, Nr 9233, 9. September 20) erschienen ist, weist
daraufhin, dass auch die Aussetzung an Pestiziden etwa bei Gärtnern
oder Landwirten zu Gehirnschädigungen führen kann. Menschen,
die Pestiziden ausgesetzt sind, haben fünf Mal größeres
Risiko als die Gesamtbevölkerung, leichte Gehirnschäden
zu erhalten, die sich beispielsweise darin äußert, flüssig
zu sprechen oder Worte, Farben oder Zahlen zu erkennen.
Im Rahmen des
Global Environmental Change Programme analysierte Chris Williams
Veröffentlichungen aus den letzten Jahrzehnten, um die Folgen
der vom Menschen veränderten Umwelt auf dessen Intelligenz
festzustellen ( Hochleistungsgetreide der Grünen Revolution
schuld an Mangelernährung [4]). Meist werden dabei allerdings
nur einzelne Faktoren berücksichtigt, kritisiert Williams,
das Problem aber sei durch die Akkumulation von Veränderungen
wahrscheinlich viel größer, als bislang angenommen wurde.
Eine Kombination aus Bodenerosion, Verschmutzung und unausgewogener
Ernährung, so Williams Fazit, schadet der Intelligenz von Millionen
von Menschen. Die Folgen reichen von schweren Gehirnschäden
bis zu leichtem kognitiven Abbau und sind vor allem in den Entwicklungsländern
zu erkennen. Und dafür gibt es jetzt auch einen Namen: Environmentally-Mediated
Intellectual Decline (EMID).
Quelle:
Florian Rötzer: Artikel in " Telepolis" vom 12.09.2000
|