Home

 

Atomkonsens und Atomgesetzänderung

Stellungnahme zu der am 11. Juni 2001 zur Unterzeichnung vorgesehenen Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen - ausgehend von dem am 14. Juni 2000 paraphierten sogenannten "Atomkonsenses" - und zum Gesetzgebungsvorhaben zur Änderung des Atomgesetzes auf der Grundlage dieser Vereinbarung von Dr. Ing. Anna Masuch im Auftrag des BBU e.V.

Vorbemerkung

Die Bundesregierung und die Energieversorgungsunternehmen wollen am 11. Juni 2001 die Vereinbarung vom 14. Juni 2000 (den sogenannten "Atomkonsens") unterzeichnen. Sie geben damit zu erkennen, dass sich jetzt beide Seiten darauf geeinigt haben, dass sie die in der Zwischenzeit erarbeiteten Formulierungen für einen Gesetzentwurf als den Abmachungen der Vereinbarung entsprechend betrachten.

Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz nimmt dies zum Anlass, aus dem Blickwinkel der betroffenen Bürgerinnen und Bürger zu der Vereinbarung Stellung zu nehmen.

Ausstieg aus der Atomenergie wird allgemein verstanden als Beendigung des Betriebs der Atomkraftwerke. Hier werden ausschließlich die Teile der Vereinbarungen behandelt, bei denen es sich um die Ergebnisse in Hinsicht auf die Stilllegung der Atomkraftwerke handelt.

Für den BBU e.V. nimmt Dr. Ing. Anna Masuch wie folgt Stellung:


1. Prüfungsmaßstab für die Verfassungsmäßigkeit des Atomgesetzes

Die Vereinbarung vom 14. Juni 2000 zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft soll in ein Gesetz umgesetzt werden.

Gesetze müssen den Prinzipen der Verfassung genügen. Man benötigt daher einen Beurteilungsmaßstab, der es ermöglicht, die Verfassungsmäßigkeit des beabsichtigten Gesetzes zu überprüfen.

Die Bundesregierung hat sich nur mit verfassungsrechtlichen Fragen zur Eigentumsnutzung der Atomkraftwerksbetreiber befasst. Von Verfassungs wegen sind die Interessen von wirtschaftlich mächtigen Unternehmen an langfristiger Kapitalplanung dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit untergeordnet. Durch die Nutzung von Eigentum dürfen Leben und Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger nicht verletzt werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1978 in der Kalkar-Entscheidung einen Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit des Betriebs von Atomkraftwerken aufgestellt.

Wichtigster Grundsatz ist die Unabdingbarkeit größtmöglichen Schutzes für Leben und körperliche Unversehrtheit vor den Gefahren der Kernenergie. Daraus sind eine Reihe von Forderungen zum Schutz der Grundrechte der betroffenen Bürger abgeleitet.

Das noch geltende Atomgesetz ist nur deshalb verfassungsgemäß, weil es die Genehmigung dann ausschließt, wenn der Betrieb der Anlage zu Schäden führt, die sich als Grundrechtsverletzungen darstellen.

Zum Schutz der Grundrechte muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse für erforderlich gehalten wird. Gibt es keine technischen Vorkehrungen zur Eindämmung der zu erwartenden Schäden, schließt die Genehmigung den weiteren Betrieb der Anlage aus.

Bei der Feststellung der Auswirkungen eines Unfalls auf die Grundrechte genügt es nicht, bloße Vermutungen über das Gefährdungspotential von Technik vorzutragen. Man muss sich auf allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisverfahren stützen. Alles, was durch solche Erkenntnisverfahren ermittelt wird und sich dann als Grundrechtsverletzung darstellt, muß ausgeschlossen sein.

Neue wissenschaftliche Erkenntnisse müssen auch umgesetzt werden. Das ergibt sich aus der Pflicht des Gesetzgebers, der Verwaltung und der Rechtsprechung, sich schützend und fördernd vor das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen.

Neue Erkenntnisse können ein schnelles Eingreifen in den Betrieb der Atomkraftwerke erforderlich machen. Da der Gesetzgebungsprozeß eher schwerfällig ist, sind dazu besonders geeignet die Handlungsmöglichkeiten der Exekutive zur Feststellung und Bewertung des Risikos. Sie hat dabei alle wissenschaftlich und technisch vertretbaren Erkenntnisse heranzuziehen und muss dabei willkürfrei verfahren.

Die aus diesen Regelungen sich ergebende Rechtsunsicherheit müssen die Atomkraftwerksbetreiber sich zumuten lassen. Sie hält sich in rechtsstaatlich hinnehmbaren Grenzen.

Die Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der Nutzung der Atomenergie hat weitreichende Auswirkungen auf die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Diese Entscheidung darf deshalb allein der Gesetzgeber treffen. Ist die Grundlage einer früheren Entscheidung durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse entscheidend in Frage gestellt, muß er überprüfen, wie das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit geschützt werden kann.

 
2. Neuester Stand von Wissenschaft und Technik: Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke Phase B

Da der Gesetzgeber neue gesetzliche Regelungen zum Betrieb von Atomkraftwerken beschließen soll, benötigt er eine Grundlage für die Feststellung und Bewertung des Risikos, das mit dem Betrieb der Atomkraftwerke verbunden ist. Er muss dazu den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik heranziehen. Anerkannte Grundlage dafür ist die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke DRS.

Die DRS war zur Zeit der Kalkar-Entscheidung bereits in Auftrag gegeben. Mit ihr sollte untersucht werden, ob es in den deutschen Atomkraftwerken zu Kernschmelzunfällen kommen kann und welche Folgen sie haben würden.

Damals war zwar bekannt, dass das Gefährdungspotential einer Kernschmelze sehr hoch ist. Unfallabläufe, bei denen es zur Kernschmelze kommen kann, galten aber offiziell als hypothetische Unfälle, als wissenschaftlich nicht erwiesen, deshalb seien ihr Eintreten und ihre Folgen nicht zu berücksichtigen.

Der erste Teil der DRS wurde 1979 als "Phase A" (DRS-A) veröffentlicht. Es mußte bestätigt werden, daß es auch in deutschen Atomkraftwerken zu Unfallabläufen mit Kernschmelze kommen kann. Ihr Ergebnis war, daß nur in 2 % der Kernschmelzunfälle ein frühes Versagen des Sicherheitsbehälters durch Dampfexplosion und damit in diesen Fällen katastrophale Unfallfolgen zu erwarten seien. In den restlichen 98 % aller Fälle bliebe der Sicherheitsbehälter lange genug intakt, dass wirkungsvolle Katastrophenschutzmaßnahmen ergriffen werden könnten.

Die Ergebnisse der DRS-A wurden nur als vorläufig betrachtet. Die Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke (DRS-B) wurde 1989 veröffentlicht.

Eins der Ergebnisse war, dass nun im Falle eines Kernschmelzens in 97% aller Fälle mit einem frühen Containmentversagen und massiven radioaktiven Freisetzungen innerhalb weniger Stunden zu rechnen ist. Das Verhältnis von Kernschmelzunfällen, bei denen damit gerechnet wurde, dass die betroffenen Menschen durch Evakuierung ausreichend geschützt werden könnten, zu Unfällen mit schwerwiegenden und weitreichenden Folgen hatte sich umgekehrt.

Neben anderen Unfallabläufen, bei denen der Sicherheitsbehälter zerstört wird, musste ein Kernschmelzunfallablauf mit schwerwiegenden Folgen berücksichtigt werden, den man bis dahin nicht beachtet hatte. Es ist der Unfallablauf bei hohem Druck im Primärkreis oder das HD-Kernschmelzen. Er ist am häufigsten zu erwarten. Im Augenblick, wenn der Boden des Reaktordruckbehälters durchschmilzt, wird der obere Teil des Reaktordruckbehälters aus seiner Verankerung gerissen, er schießt raketenartig nach oben und zerstört den Sicherheitsbehälter. Sofort werden große Mengen radioaktiver Stoffe aus dem Reaktorkern freigesetzt.

Zwar versuchte die Bundesregierung unter Helmut Kohl, das Interesse der Öffentlichkeit von den neuen Erkenntnissen aus der DRS-B abzulenken, indem sie die Arbeiten an der Studie abbrechen ließ. Dies gelang nur sehr eingeschränkt. Eine Arbeitsgruppe des Kernforschungszentrums Karlsruhe unter der Leitung von G. Keßler hat 1993 Zahlenwerte veröffentlicht, nach denen bei einem Hochdruck-Kernschmelzunfall die Bewohner eines Gebiets zwischen 10 000 km² bis über 100 000 km² dauerhaft umgesiedelt werden müssen. Überdies stellte man klar, daß der Sicherheitsbehälter der derzeit betriebenen Atomkraftwerke gegen das raketenartige Durchbrechen des Reaktordruckbehälters beim Hochdruckkernschmelzen nicht verstärkt werden kann. Technische Abhilfe gegen die Unfallfolgen ist daher nicht möglich.

Selbst durch gut vorbereitete Katastrophenschutzmaßnahmen könnten die zu erwartenden späteren Erkrankungen mit Todesfolge im günstigsten Fall nur auf etwa die Hälfte reduziert werden. Das Risiko eines Kernschmelzunfalls mit schwerwiegenden Folgen besteht so lange, wie noch ein Atomkraftwerk betrieben wird.

Nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik kann die Verletzung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nur durch die sofortige Stilllegung der Atomkraftwerke ausgeschlossen werden.


3. Blockierung der Umsetzung der DRS-B unter der Regierung Helmut Kohl

Spätestens seit der Veröffentlichung der DRS-B war den Atomkraftwerksbetreibern klar, daß der Vertrauensschutz für die Technik, in die sie ihr Kapital investiert haben, rapide zur Neige gehen könnte. Der damalige Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit und Strahlenschutz im Bundesumweltministerium Walter Hohlefelder hat im Januar 1991 die Atomindustrie gewarnt, die These vom "hypothetischen Unfall" werde kaum aufrecht erhalten werden können. Abhilfe sollte geschaffen werden durch eine Änderung des Atomgesetzes. Der Ausschluss des Drittschutzes gegenüber dem Risiko solle im Gesetz verbindlich festgelegt werden.

1994 wurde das Atomgesetz geändert. In den neuen § 7 Abs. 2a des Atomgesetzes mußte zwar das Eingeständnis aufgenommen werden, daß es zu Kernschmelzunfällen kommen kann, die einschneidende Katastrophenschutzmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung erforderlich machen. Aber nur die Genehmigung von neuen Atomkraftwerken wurde davon abhängig gemacht, dass für diese die Auswirkungen einer Kernschmelze auf die engste Umgebung des Kraftwerks beschränkt bleiben. Die bereits betriebenen Anlagen wurden aber in § 7 Abs. 2a Satz 2 AtG ausdrücklich von dieser Forderung ausgenommen. Damit wurde diesen Anlagen ein Bestandsschutz gesichert, den sie vorher nicht hatten.

Darüber hinaus wurden die Kernschmelzereignisse im Gesetzestext zu "Risiken für die Allgemeinheit" erklärt. Die Vorsorge gegen "Risiken für die Allgemeinheit" kann der einzelne Bürger nicht in einem Klageverfahren einfordern. Den Bürgerinnen und Bürgern wurde die Möglichkeit entzogen, mit Berufung auf den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik die Stilllegung der Atomkraftwerke einzuklagen.

Ein Rest der Rechtsunsicherheit der Atomkraftwerksbetreiber blieb bestehen. Die Bundesregierung wagte nicht, die ursprüngliche Fassung des § 7 Absatz 2 Nr. ganz zu streichen. Daher blieben die Verpflichtungen der Exekutive bestehen.

Zur selben Zeit hatten Siemens und Framatome die Planung für den Europäischen Druckwasserreaktor EPR begonnen. Sie beabsichtigten, die strengen Genehmigungsbedingungen zu umgehen. In einem gemeinsamen deutschfranzösischen Ausschuß war der Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium Gerald Hennenhöfer maßgeblich an Vereinbarungen beteiligt, das Hochdruckkernschmelzen nicht durch hohe Anforderungen an die Technik, sondern durch bloße Absprachen "auszuschließen".

Die Atomkraftwerksbetreiber wünschten eine frühzeitige öffentliche Auseinandersetzung um diese Probleme zu vermeiden, um nicht die derzeit betriebenen Atomkraftwerke ins Gerede zu bringen. Daher wurde 1997/98 in einer weiteren Atomgesetzänderung das Genehmigungsverfahren für neue Atomkraftwerke mit weiteren Hindernissen für die rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und Bürger versehen.

Durch diese Atomgesetzänderungen wurden die Rechtsschutzrechte der Bürgerinnen und Bürger ausgehebelt.


4. Die Regelungen in der Vereinbarung vom 14. Juni 2000 zum Betrieb der Atomkraftwerke

Mit der Bundestagswahl vom 27. September 1998 haben die Wähler deutlich gemacht, dass sie die Ziele und die Art der Politik der bisherigen Bundesregierung unter Helmut Kohl nicht mehr mitzutragen bereit waren. Nach dem Wahlsieg erklärte die neue Regierungskoalition: "Wegen ihrer großen Sicherheitsrisiken mit der Gefahr unübersehbarer Schäden ist die Atomkraft nicht zu verantworten." Sie werde alles unternehmen, um die Nutzung der Atomkraft so schnell wie möglich zu beenden." Durch Änderung des Atomgesetzes sollte die schnelle Beendigung der Atomenergienutzung erreicht werden. Viele verstanden darunter, die neue Bundesregierung werde sich energisch gegen die Interessen der Atomwirtschaft einsetzen.

Sollten bei einer veränderten Politik die Schutzinteressen der Bevölkerung gegenüber dem Betrieb von Atomkraftwerken durchgesetzt werden, so musste der neueste Stand von Wissenschaft und Technik berücksichtigt werden. Die Einschränkungen des Rechtsschutzes der Betroffenen mussten aufgehoben werden.

Noch im Jahr 1998 lud die neue Bundesregierung die Atomwirtschaft zu Gesprächen ein, in denen im Konsens Schritte zur Beendigung der Atomenergie vereinbart werden sollten. Veba und Viag, inzwischen zu E.on fusioniert, schickten als ihre Vertreter die ehemaligen Angehörigen des Bundesumweltministeriums Hohlefelder und Hennenhöfer in diese Verhandlungen.

Am 14. Juni 2000 wurde die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft bekannt gemacht, die alle wesentlichen Punkte der Verhandlungsergebnisse enthält.

Trotz der wiederholten Behauptungen der Bundesregierung, sie wolle die künftige Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke befristen, findet sich in der Vereinbarung bei näherer Betrachtung keine Fristsetzung, weder für den Betrieb der einzelnen Atomkraftwerke, noch für einen Zeitpunkt, zu dem die Stromerzeugung aus Kernenergie endgültig beendet sein soll.

Tatsächlich werden der Atomwirtschaft Stromproduktionsrechte zugesichert.

Für jedes Atomkraftwerk wird eine Strommenge als Produktionsrecht des jeweiligen Betreibers festgelegt. In die Berechnung dieser "Reststrommengen" geht die sogenannte "Restlaufzeit" - definiert als "Regellaufzeit von 32 Kalenderjahren ab Beginn des kommerziellen Leistungsbetriebes" - nur als eine von mehreren Vorbedingungen ein. Weiter wird für jedes Kraftwerk der Durchschnitt der 5 höchsten Jahresproduktionen zwischen 1990 und 1999 berechnet. Diese sogenannte Referenzmenge wird ebenfalls der Berechnung der Reststrommengen zugrunde gelegt.

Es ist für Außenstehende nicht überprüfbar, wie die Referenzmengen für die einzelnen Anlagen errechnet wurden. Erkennbar ist, dass für die zukünftige Stromproduktionsleistung der Atomkraftwerke höhere Werte angesetzt wurden, als sie jeweils im Durchschnitt des Dauerbetriebs über die gesamte Laufzeit der jeweiligen Anlage bis jetzt erreicht wurden.

Zu der Referenzmenge wird schließlich noch ein Zuschlag von 5,5% addiert.

Die den einzelnen Anlagen zugerechneten Reststrommengen ergeben sich erst als Produkt aus der jeweiligen Restlaufzeit mit der um den Zuschlag von 5,5% erhöhten Referenzmenge.

Die Reststrommengen für die einzelnen Atomkraftwerke sollen so, wie sie in Anlage 1 der Vereinbarung aufgeführt sind, im Anhang zur Novelle des AtG verbindlich festgelegt werden. Die Summe dieser Reststrommengen beträgt 2516,05 TWh. Die EVU sollen Strommengen von weniger wirtschaftlichen Atomkraftwerken auf wirtschaftlichere Anlagen übertragen können sollen. Diese "Flexibilität" soll den EVU die Möglichkeit geben, AKWs stilllegen zu können, ohne dass sie die ihnen zugesicherten Stromproduktionsrechte aufgeben müssen. Beschließt die Atomwirtschaft, ältere Atomkraftwerk vorzeitig stillzulegen, wird die Laufzeit jüngerer und leistungsfähigerer Atomkraftwerke noch einmal um entsprechende Zeiträume verlängert.

Auch dieses Recht zur Übertragung der jeweiligen Strommengen auf andere Anlagen soll im Atomgesetz abgesichert werden.

RWE nutzte die Bereitwilligkeit der Bundesregierung, auf das Modell der Übertragbarkeit von Reststrommengen einzugehen, um auch das durch Gerichtsbeschluß stillgelegte, also illegal betriebene Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich in dieses Modell einzubeziehen. Die Bundesregierung hat dem Unternehmen zugestanden, für Mülheim-Kärlich eine Strommenge von 107,25 TWh anzusetzen und diese zusätzlich entsprechend der Vereinbarung auf andere Atomkraftwerke zu übertragen. Diese Strommenge kommt in etwa einer Laufzeit für Mülheim-Kärlich von ca. 10 Jahren gleich. RWE soll sie auf das Atomkraftwerk Emsland oder andere neuere Anlagen, auf die Blöcke B und C des Atomkraftwerks Gundremmingen und max. 20% auf das Atomkraftwerk Biblis B übertragen können.

Für diese Anlagen ergibt sich daraus eine weitere zusätzliche Verlängerung der Betriebszeiten über diejenigen hinaus, die sich aus den in Anlage 1 genannten Reststrommengen ergeben. Für Biblis B ginge es um eine Erhöhung der Reststrommenge von 81,46 TWh um ca. 20 TWh, für Gundremmingen B und C eher mehr. Das Atomkraftwerk Emsland ist erst 1988 als eins der letzten drei in Betrieb gegangen und gehört daher sowieso schon zu den Anlagen, deren Betriebszeit durch die Übertragung von Reststrommengen erheblich verlängert werden wird. Durch den Mülheim-Kärlich-Deal wird die Beendigung seines Betriebs zusätzlich noch weiter in unbekannte Zeit hinausgeschoben.

Die gesamten Produktionsrechte erhöhen sich durch die Einbeziehung von Mülheim-Kärlich um ca. 4 % auf 2623,30 TWh

Aus der Blickrichtung der betroffenen Bürgerinnen und Bürger hat die Reststrommengenregelung zur Absicherung von Produktionsrechten noch eine weitere Wirkung. Sollten einzelne Personen versuchen, auf Stilllegung eines Atomkraftwerks zu klagen auf Grund neuer Erkenntnisse über Detailprobleme dieser Anlage, dann würden sie selbst dann, wenn sie vor Gericht erfolgreich wären, am Ende als die um ihren Erfolg Betrogenen dastehen. Denn unter Berufung auf den Präzedenzfall Mülheim-Kärlich könnte der beklagte Betreiber geltend machen, dass er die noch nicht produzierte Strommenge auf andere Anlagen übertragen kann. Auch das Klagen gegen einzelne Anlagen würde also nicht dazu führen, dass die Beendigung der Atomenergieproduktion schneller erreicht wird.

Das Verfahren der Übertragung von Produktionsrechten von einer Anlage auf andere stellt sich als Quotenregelung dar. Die gesamte Betriebsdauer aller Atomkraftwerke ist allein durch die vereinbarte noch zu produzierende Strommenge von 2623,30 TWh begrenzt. Innerhalb dieses Rahmens haben die Betreiber weiteste Spielräume, selbst zu entscheiden, ob und wann ein Atomkraftwerk stillgelegt oder weiter betrieben wird. Die einzige Bedingung für die vorzeitige Stilllegung eines Atomkraftwerks ist die Unwirtschaftlichkeit, nicht der Schutz der Grundrechte Dritter.

Eine Begrenzung auf einen bestimmten Zeitpunkt zur Beendigung der Atomenergienutzung gibt es nicht.

Betroffenen Bürgerinnen und Bürgern wird es unmöglich gemacht, durch eigene Aktivitäten wie Klagen auf Stilllegung einzelner Anlagen ein früheres Ende des Atomkraftwerksbetriebs zu erreichen.

Die Exekutive wird daran gehindert, zu bestimmten Zeitpunkten die Betriebseinstellung der Atomkraftwerke einzufordern.

Man gewinnt aus diesem Ergebnis den Eindruck, dass die Bundesregierung die Verhandlungen mit der Atomwirtschaft im Geiste einer außerordentlich großen Bereitwilligkeit geführt hat, den Wünschen der Betreiber wo irgend möglich entgegen zu kommen. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts der Vereinbarungen zu den Sicherheitsanforderungen, die in Zukunft gelten sollen

Bundesregierung und Atomwirtschaft geben ihre übereinstimmende Meinung kund, dass die Atomkraftwerke in der Bundesrepublik "auf einem international gesehen hohen Sicherheitsniveau betrieben werden". Bei dieser Aussage geht es nicht um die Frage, ob es in den deutschen Atomkraftwerken zu Kernschmelzunfällen kommen kann und wie diese sich auf das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürgerinnen und Bürger auswirken. In der Bundesrepublik muss vielmehr der Prüfungsmaßstab angewendet werden, den das BVerfG in der Kalkar-Entscheidung und entwickelt hat. Der neueste Stand von Wissenschaft und Technik muss berücksichtigt werden.

Eine gesetzliche Regelung für die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen soll eingeführt werden. Die schon unter der Regierung Kohl eingeführte Praxis wird abgesichert. An diesen Überprüfungen hat auch die Atomwirtschaft ein Interesse. Unter anderem wird dabei festgestellt, ob es beispielsweise zu Verschleißerscheinungen gekommen ist. In Zusammenarbeit mit den Behörden werden dann für die Betreiber wirtschaftlich günstige Nachrüstungslösungen erarbeitet. Der bisher benutzte Leitfaden soll weiterhin gelten. Er enthält aber keine Anforderungen, die aus dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik und den Erkenntnissen aus der DRS-B abgeleitet wären.

Diesem Sicherheitsstandard liegt die Sicherheitsphilosophie zugrunde, nach der Kernschmelzunfälle in den deutschen Atomkraftwerken "ausgeschlossen" werden können, weil sie bloß "hypothetisch" seien. Die Bundesregierung hat sich darauf festgelegt, dass sie keine Initiative ergreifen wird, um diese Sicherheitsphilosophie zu ändern.

Bei Einhaltung dieser Bedingungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen, solange sie noch betrieben werden. Um den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke nicht zu gefährden, verzichtet sie auf die Forderung, den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen.

Das erklärt, was darunter zu verstehen ist, wenn durch die Aufhebung des § 7 Abs. 2a Satz 2 "nur die von der Vorgängerregierung beabsichtigte Klarstellungsfunktion aufgehoben" wird. Weil auch der Exekutive jede Möglichkeit aus der Hand genommen ist, die Stilllegung der Atomkraftwerke aufgrund der Erkenntnisse aus der DRS-B durchzusetzen, ist der Bestandsschutz für die Atomkraftwerke durch die jetzigen Regelungen weit besser gesichert, als es der Regierung Kohl gelungen war.

Wie sehr die Atomwirtschaft seit Beginn der Verhandlungen um den "Konsens" fürchtete, die Bundesregierung würde sich gegen sie nicht nur auf "eine veränderte Sicherheitsphilosophie", sondern auf den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik und die Ergebnisse der DRS-B berufen, läßt sich an ein paar Beobachtungen erkennen.

Der Jurist Fritz Ossenbühl, der im Kalkar-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht die Interessen von RWE vertreten hatte, versuchte im Dezember 1998 herauszufinden, ob die Bundesregierung sich auf einen Konflikt mit der Atomwirtschaft einlassen wollte oder ob sie sich an ihr "Konsens"-Versprechen halten würde. Er machte darauf aufmerksam, daß weder die Behörde noch der Gesetzgeber allein aufgrund einer geänderten "Sicherheitsphilosophie" die Genehmigung kassieren darf, ohne weitere zusätzliche Erkenntnisse heranzuziehen. Die juristischen Berater der Bundesregierung griffen diesen Hinweis auf den neuesten Stand von Wissenschaft und Technik aber nicht auf.

Im Frühjahr 1999 machte das Bundeskanzleramt einen überraschenden Schwenk in seiner Politik. Es wies die im Bundesumweltministerium bereits geleisteten ersten Arbeiten zur Umsetzung der Koalitionsvereinbarung zurück. Seither wurden die Verhandlungen strikt "im Konsens mit den Betreibern" geführt.

Nach der Veröffentlichung der Vereinbarung am 14. Juni 2000 gab es im Bundesumweltministerium Überlegungen, wie im veränderten Gesetz als Begründung für das Eingreifen in das Eigentumsnutzungsrecht der Betreiber ein Hinweis auf die "Gefahren der Atomkraft" formuliert werden könnte.

Das musste das Ruhebedürfnis der Betreiber empfindlich stören. Im Oktober 2000 startete der Jurist Hellmut Wagner, ein erklärter Befürworter der Atomenergienutzung, einen Test, wie die Regierung es zu halten gedenke mit der Formulierung "neuester Stand von Wissenschaft und Technik". Er schrieb nicht nur, die Formel von der veränderten Sicherheitsphilosophie entspreche "nicht dem (neuesten) Stand von Wissenschaft und Technik". Er ging sogar so weit, die Berücksichtigung von DRS-A und DRS-B zu fordern. Allerdings behauptete er, nach den Ergebnissen der DRS-B sei die Sicherheit der Atomkraftwerke erwiesen und die Beschränkung ihres Betriebs nicht zulässig, weil der Unfallablauf Dampfexplosion mit frühem Versagen des Sicherheitsbehälters ausgeschlossen werden könne. Er berief sich auf mündliche Mitteilungen von G. Keßler, obwohl gerade dieser in Veröffentlichungen die Bedeutung der Zerstörung des Sicheitsbehälters beim Hochdruck-Kernschmelzen herausgestellt hat. Es wäre ein Leichtes gewesen, Wagner zu widerlegen und beim Wort zu nehmen. Aber nicht einmal auf dieses gewagte Vorpreschen ging das Bundesumweltministerium ein.

Stattdessen haben manche Regierungsberater eine nicht sehr tief gehende Kenntnis der Kalkar-Entscheidung und einer wissenschaftlich akzeptablen Bewertung der neuesten Erkenntnisse zu erkennen gegeben. Die Meinung, der vereinbarte "Ausstieg" sei geeignet, das Risiko der Bevölkerung, von den Folgen eines katastrophalen Unfalls betroffenen zu sein, zu vermindern, ist wissenschaftlich nicht vertretbar. Auch dass vom Gesetzgeber grundsätzlich nicht mehr verlangt würde als eine Verminderung des Risikos, entspricht nicht der Forderung der Kalkar-Entscheidung nach größtmöglichem Schutz für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Lange fühlte sich die Atomwirtschaft gerade an diesem Punkt keineswegs befriedigend abgesichert. Noch im Februar 2001 drang ein Streit darüber in die Öffentlichkeit. Wirtschaftsminister Werner Müller befürchtete, wenn die Gefahren der Atomkraft vom Gesetzgeber schriftlich fixiert würden, dann könnten Bürger unter Berufung darauf beim Bundesverfassungsgericht auf sofortige Stilllegung der Kraftwerke klagen, und dann müssten die Betreiber Milliarden-Verluste hinnehmen. Schließlich wurde Mitte Mai 2001 bekannt, man habe sich offenbar auf eine "weichere" Formulierung geeinigt. Sinngemäß soll es nun heißen: "In Abwägung der unvertretbaren Risiken" sei die Nutzung der Atomkraft im Interesse des Gemeinwohls befristet und geordnet zu beenden. Dieser Formel liegt erkennbar eine höchst mangelhafte Vorstellung von den bekannten Risiken und von der Rangzuordnung der Grundrechte zugrunde. Sie tritt an die Stelle der klar umrissenen Forderung "neuester Stand von Wissenschaft und Technik zum Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit". Das zeugt davon, dass die Bundesregierung sich von zutreffenden Auffassungen nicht beeinflussen ließ.

Es wird eine Monitoringgruppe als Kontrollgremium eingerichtet, die aus drei hochrangigen Vertretern der beteiligten Unternehmen und drei Vertretern der Bundesregierung zusammengesetzt sein soll. Unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers soll sie einmal jährlich bewerten, ob die in der Vereinbarung enthaltenen Verabredungen eingehalten sind.

Findet die Atomwirtschaft einen Anlass zur Behauptung, die Vereinbarungsbedingungen würden nicht eingehalten, kann sie den Vertrag in Frage stellen.

Die Kontrolle durch die Monitoringgruppe dürfte auch den Bundestag betreffen. Der Gesetzgeber wird zwar im Gesetzgebungsprozess nicht wirklich darüber entscheiden, ob die weitreichenden Auswirkungen der Atomenergienutzung auf die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger angemessen berücksichtigt worden sind. Eine Mehrheit der Abgeordneten von SPD und Grünen wird in die Vereinbarung einwilligen. Sollten einzelne Abgeordnete später sich dafür einsetzen wollen, eine schnelle Beendigung der Atomenergienutzung zum Schutz der Grundrechte zu erreichen, werden sie sich auf eine Auseinandersetzung mit diesem Kontrollgremium gefasst machen müssen.

Die Bundesregierung hat der Atomwirtschaft eine Rolle zugesprochen, die in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Sie hat ihr zugebilligt, direkt Einfluss auf die Ausgestaltung des Gesetzes auszuüben über den Gesetzgeber und seine Befugnisse hinweg. Das ist bisher einmalig.

Es muss damit gerechnet werden, dass diese Methode, einmal vom Bundestag hingenommen, Begehrlichkeiten bei anderen Großunternehmen weckt. Zu denken wäre z.B. an die Gentechnologie.


5. Zusammenfassung

Mit der Vereinbarung vom 14. Juni 2000 hat die Bundesregierung unter Gerhard Schröder der Atomwirtschaft Zugeständnisse gemacht, die sie unter Helmut Kohl nicht erreichen konnte.

Die Vereinbarung ist ein Vertrag zwischen zwei Partnern zu Lasten Dritter, der von den Folgen eines Kernschmelzunfalls betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Sie waren an dem Aushandlungsprozess nicht beteiligt. Ihre Schutz- und Freiheitsrechte werden durch die beabsichtigten Gesetzesänderungen drastisch beschnitten.

Der Atomwirtschaft werden Stromproduktionsrechte zugesichert. Für die Kapitalverwertung hat sie jetzt Planungssicherheit. Im Rahmen einer Quotenregelung kann sie selbst entscheiden, ob und welche Atomkraftwerke sie wegen Unwirtschaftlichkeit stilllegen will. Es gibt keine Fristsetzung, weder für den Betrieb der einzelnen Atomkraftwerke, noch für einen Zeitpunkt, zu dem die Stromerzeugung aus Kernenergie endgültig beendet sein soll.

Bürgerinnen und Bürger können nicht einmal die Einhaltung eines festen Zeitpunkts einfordern, zu dem die Atomkraftwerke stillgelegt sein müssen. Mit Mülheim-Kärlich als Präzedenzfall müssen alle dahingehenden Versuche zunichte werden.

Die Exekutive kann nicht auf der Einhaltung eines festen Zeitpunkts der Beendigung des Betriebs der jeweiligen Anlage bestehen. Ihr ist auch die Möglichkeit aus der Hand genommen, die Stilllegung der Atomkraftwerke aufgrund der neuesten Erkenntnisse über Kernschmelzunfälle und ihre Folgen durchzusetzen.

Der Bestandsschutz für die Anlagen der Atomkraftwerksbetreiber ist nicht mehr mit Unsicherheiten behaftet. Die Atomwirtschaft hat endgültig erreicht, was sie seit der Veröffentlichung der DRS-B angestrebt hat.

Die Vereinbarung bindet die Atomkraftwerksbetreiber gegenüber der Bundesregierung nicht. Finden die Betreiber andere Möglichkeiten, ihre Interessen durchzusetzen, werden sie sich nicht an die Beschränkung durch die im Vertrag vereinbarte zu produzierende Strommenge zu halten brauchen. Sie könnten dann die Laufzeiten der Atomkraftwerke nach ihrem Belieben verlängern.

Schon jetzt weiß sich die Atomwirtschaft sicher, dass auch das beabsichtigte Gesetz sie nicht hindern wird, wenn sie sich nicht an die Vereinbarung gebunden betrachtet. Unter einer anderen Regierung können Gesetze immer geändert werden. Sollte es zu einer weiteren Gesetzesänderung kommen, haben die Atomkraftwerksbetreiber bessere Ausgangsbedingungen als je zuvor.

Die Bundesregierung unter Gerhard Schröder hat zugunsten der Eigentumsnutzung der Atomkraftwerksbetreiber ihre Verpflichtung zum Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit aufgegeben durch den Verzicht auf die Berücksichtigung des neuesten Standes von Wissenschaft und Technik. Sie hat den Betreibern einen erweiterten Vertrauensschutz zugebilligt, auf den sie bisher keinen Anspruch hatten.

Mit der Vereinbarung und dem Gesetz beschreitet die Bundesregierung den Weg der Politik des "Konsens" durch "Selbstverpflichtung der Industrie". Sie räumt die Schranken beiseite, durch die der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Bürgerinnen und Bürger gegen verletzende Eingriffe durch Unternehmenstätigkeit bisher verbürgt war.