Die
Verblödung schreitet voran
Die weitgehend
verdrängte Bedrohung der menschlichen Intelligenz durch die
Vergiftung der Umwelt
von
Ulrich Berger und Christoph Stein ("zeitreport")
Nein, dies ist kein Artikel über neokonservative
US- Think - Tanks oder über den Niveauverfall der elektronischen
Medien oder über die neueste Sau, die durchs Dorf der bundesdeutschen
"Reform" - Debatte getrieben wird.
Schwermetalle, radioaktive Stoffe,
chemische Umweltgifte und Mangelernährung zerstören die
menschliche Intelligenz. Weltweit ist das zentrale Nervensystem
des Menschen bereits so stark geschädigt, dass ein globaler
Rückgang der menschlichen Intelligenzleistung nicht mehr verhindert
werden kann. Das menschliche Gehirn zerfällt. Dieser Zerfall
wird seit Jahren von Ärzten und Neurophysiologen beobachtet.
Die gesellschaftlichen Schutzinstitutionen, Recht, Wissenschaft
und Politik haben versagt. Die Menschheit verblödet.
Dieses Horrorszenario ist das
Ergebnis einer detailreichen Studie von Christopher Williams: "Endstation
Gehirn, Die Bedrohung der menschlichen Intelligenz durch die Vergiftung
der Umwelt" (Klett-Cotta, 2003). Williams ist Fellow des ESRC Global
Environmental Change-Programms [1] an der University of Sussex und
Mitarbeiter an der Führungsakademie der Vereinten Nationen
in Jordanien. Den ökologischen und medizinischen Sachverhalt
hat 1996 eine internationale Tagung von Wissenschaftlern und Ärzten
im "Manifest von Erice" festgehalten (Wir zitieren das Manifest
im Anhang zu diesem Artikel). Die Palette der Stoffe, die schon
in winzigsten Dosen das Gehirn schädigen, ist breit.
Zu den Verbindungen jedoch, bei
denen Auswirkungen auf die innere Sekretion nachgewiesen worden
sind, gehören Dioxine, PCB s, Phenole, Phthalate und viele
Pestizide. Alle Verbindungen, welche die Tätigkeit von Neurotransmittern,
Hormonen und Wachstumsfaktoren im sich entwickelnden Gehirn nachahmen
oder ihr entgegenwirken oder die entsprechenden Werte verändern,
gehören potentiell zu dieser Gruppe. Manifest von Erice
Weitere Stoffe, bei denen neurotoxische
Wirkungen nachgewiesen werden konnten, sind Blei und andere Schwermetalle
bzw. Schwermetallverbindungen, wie Methylquecksilber und Munition
aus abgereicherten Uran (vgl. dazu Tödliches Erbe [2]). Auch
radioaktive Strahlung in jeder Form und Elektrosmog stehen unter
dem begründeten Verdacht, das Nervensystem zu schädigen.
Und diese Substanzen sind allgegenwärtig:
Solche vom Menschen hergestellte Chemikalien (die das endokrine
System und damit die Entwicklung des Gehirns und anderer Teile des
zentralen Nervensystems stören) finden sich auf allen Kontinenten
und in allen Weltmeeren. Man findet sie bei einheimischen Populationen
von der Arktis bis in die Tropen, und weil sie sich im Körper
lange halten, können sie von Generation zu Generation weitergegeben
werden. Manifest von Erice
Mit anderen Worten: Schon 1996
gab es kein Lebewesen mehr auf der Erde, das nicht von Nervengiften
verseucht war.
Aber nicht nur die Verseuchung mit neurotoxischen Stoffen bedroht
die Intelligenz. Ebenso wesentlich ist Mangelernährung. Nicht
nur Spurenelementmangel aufgrund natürlicher Ursachen, wie
z.B. Jodmangel, ist hier zu nennen, auch die moderne industrielle
Landwirtschaft führt zu Mangelerscheinungen.
Probleme entstehen durch die
sogenannte Grüne Revolution. Neue Getreidesorten haben zu einem
Mangel an Eisen, Zink, anderen Mikro-Nährstoffen und zu einem
Vitamin-A-Mangel geführt. Williams
Andere Ursachen sind u.a. Bodenerosion
durch exzessive Bewirtschaftung. Spurenelementemangel und Vergiftung
bilden eine tödliche Mixtur. Bei Mangelernährung nimmt
der Körper verstärkt Giftstoffe auf, da er das Fehlen
der lebensnotwendigen Spurenelemente durch die Aufnahme ähnlicher,
aber toxischer Substanzen auszugleichen sucht.
Dass Verseuchung und Mangelernährung die geistige Entwicklung
bedrohen, ist seit Jahren bekannt, und dennoch geschah und geschieht
umweltpolitisch wenig. Das Thema wird in der öffentlichen Debatte
totgeschwiegen.
Andere umwelt- und gesundheitspolitische
Themen, wie das Ozonloch, der Klimawandel, die Bedrohung der Wale,
die Krebsgefahr, z.B. durch das Rauchen, werden breit debattiert
und mit großer medialer Resonanz ergreift die Politik Maßnahmen.
Die Zerstörung des Gehirns durch Umweltverseuchung dagegen
ist kein Thema.
Wie kommt es zu diesem zweierlei
Maß? Wieso ist die umweltbedingte Bedrohung der Intelligenz
ein Tabu?
Eine Internetrecherche zu den
Themen "PCB-Belastung an Schulen" sowie der im letzten Jahr breit
debattierten Pisa-Studie bringt ein bemerkenswertes Resultat: Tausende
von Schulen sind in Deutschland PCB-belastet. PCB ist neurotoxisch.
Dennoch findet sich auf den Webseiten der einschlägigen Organisationen,
etwa der GEW, kein Text, der einen möglichen Zusammenhang zwischen
dem schlechten Abschneiden deutscher Schüler bei der Pisa-Studie
und der PCB-Belastung der Schulen diskutiert. Beide Themen befinden
sich in verschiedenen Schubladen und kaum jemand wagt den Versuch
beide Schubladen gleichzeitig zu öffnen.
Eine Ausnahme bildet die Homepage
einer "Selbsthilfegruppe (SHG) für Chemikaliengeschädigte",
die vorsichtig einen möglichen Zusammenhang andeutet [3], so
als spräche man das Thema besser nicht an: "Die Frage sei erlaubt:
Wie groß ist der Einfluß von Schadstoffen an Schulen
in Deutschland auf das negative Ergebnis der Pisa-Studie?"
In der Öffentlichkeit verhallte
diese Frage ebenso ungehört wie vor 5 Jahren das Manifest von
Erice. Williams sucht in seinem Buch eine Antwort auf die Frage.
Warum war und ist der geistige Verfall auf Grund von Umwelteinflüssen
kein zentrales Thema der Umweltdebatte? Was macht es so schwierig
das Problem angemessen zu diskutieren und wirksame Maßnahmen
zu ergreifen?
Das Versagen der Wissenschaften
Medizinische Erkenntnisse
über die toxische Wirkung einer Vielzahl von Substanzen liegen
bereits vor. Gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über
die demografische Dimension chemisch verursachter Gehirnschäden
sind jedoch rar. Was wir wissen, wissen wir zumeist von einzelnen
spektakulären Industrieunfällen, bei denen die zuständigen
Behörden an einer Untersuchung nicht vorbei kamen und auf der
Grundlage von Tierstudien. Bei Industrieunfällen kennt man
in der Regel die Dosis der chemischen Verseuchung nicht und Tierstudien
sind nur sehr bedingt auf den Menschen übertragbar.
Eine winzige Dosis Dioxin kann
ein Meerschweinchen töten, während ein Hamster eine 5000
mal größere Dosis überleben wird. Williams
Auch methodisch lauern eine Reihe
von Unwägbarkeiten.
Zur Extrapolation von Daten,
die bei Tieren gewonnen worden sind, gehört es, dass man von
einer gesunden, richtig ernährten und genetisch homogenen Tierpopulation
auf eine menschliche Population Rückschlüsse zieht, zu
der Gruppen gehören, die sich in Alter, Gesundheit und Ernährungszustand
voneinander unterscheiden und die überdies allgemein heterogen
sind. In ähnlicher Weise werden menschliche Daten, sofern sie
zur Verfügung stehen, oft von einer arbeitenden Population
gesunder Erwachsener abgeleitet, meist Männern. Williams
Die Folge ist, dass das gesundheitliche
Risiko potentieller Nervengifte systematisch unterschätzt wird.
Industriell werden ca. 70.000
chemische Substanzen genutzt und nur für vergleichsweise wenige
Substanzen, meist Medikamente, gibt es eine Risikoabschätzung
und jedes Jahr kommen Tausende neuer Substanzen hinzu. Eine umfassende
Risikoabschätzung ist jedoch teuer, zeitaufwendig und im Ergebnis
auch noch fragwürdig.
Im Netz finden sich leicht weitere
Informationen zum Thema: Die EU-Bürokratie etwa hat in einem
"langsamen", "ressourcenintensiven", "ineffizienten" und "nur beschränkt
wirksamen" Verfahren in 10 Jahren für 56 Substanzen eine Risikobewertung
abgeschlossen (vgl. dazu die VKI-Tagung 'Stimmt die Chemie in Europa'
[4] vom Herbst 2002).
Aber das sind noch nicht alle
Schwierigkeiten, vor denen eine wissenschaftliche Untersuchung des
umweltbedingten geistigen Verfalls steht. Das Phänomen selbst
entgleitet dem messenden Zugriff. Ist eine nur gering ausgeprägte
geistige Schwäche eines Kindes, etwa Konzentrationsmangel,
das Resultat chemischer Vergiftung, schlechter schulischer Förderung,
Stress im Elternhaus, Fehlernährung oder von allen genannten
Faktoren? Gibt es noch weitere Ursachen? Wie stellt man überhaupt
fest, dass ein Kind unter seinen geistigen Möglichkeiten bleibt?
Wissenschaftliche Untersuchungen
konzentrieren sich angesichts dieser Unwägbarkeiten auf offenkundigere
Phänomene, wie dem Down-Syndrom. Beim Versuch aber etwa zwischen
radioaktiver Verseuchung und einem gehäuften Auftreten des
Down-Syndroms mit den Methoden der Epidemiologie Kausalzusammenhänge
aufzuzeigen, geraten sie schnell in neue methodische Unwägbarkeiten:
War die Radioaktivität die einzige mögliche Ursache? Gibt
es im Umkreis einer radioaktiven Verseuchung eine im Vergleich zu
anderen Bevölkerungsgruppen kaum erhöhte Zahl von Geburtsschäden,
weil die schwangeren Frauen eine sorgfältigere Voruntersuchung
vornehmen lassen und möglicherweise geschädigte Feten
abtreiben?
Nach der Katastrophe von Tschernobyl
entschieden sich viele Mütter für eine Abtreibung, womit
sie die Geburtsschäden infolge von Strahlung statistisch reduzierten.
Williams
Es kann auch sein, dass die Spätfolgen
einer radioaktiven Verseuchung sich erst nach Jahren zeigen, möglicherweise
erst eine Generation später, der Versuch, dann jedoch noch
Kausalketten aufzuzeigen, wird mit der Zahl der Jahre immer schwieriger.
Weitere Probleme entstehen aus
der Flächen deckenden Verseuchung der ganzen Erde. Epidemiologische
Studien benötigen nicht belastete Kontrollgruppen. Wenn aber
bestimmte Toxine weltweit und relativ gleichmäßig Mensch
und Umwelt vergiften, gibt es keine Kontrollgruppen mehr und damit
keine Möglichkeit, die Auswirkungen dieser Verseuchung zu analysieren.
Es gibt nur wenige Gemeinden
in den reichen Industriestaaten, die den Östrogen ähnlichen
Chemikalien wie den Phthalaten nicht total ausgesetzt sind, so dass
epidemiologische Forschungen, welche die Schädigung von Spermien
mit diesen Wirkstoffen in Verbindung zu bringen suchen, immer schwieriger
werden. Williams
Gibt es in den Industriestaaten
noch genügend Kinder, die kein Phenylanalin (Süßstoff
z.B. in Getränken) zu sich genommen haben, damit man die Wirkung
dieser Chemikalie auf die geistige Entwicklung überhaupt noch
epidemiologisch untersuchen kann?
Aber nicht nur die Menschen sind
weltweit verseucht, auch Laboratorien können kontaminiert sein.
In kontaminierten Laboren aber sind keine präzisen Messungen
möglich. Ein Problem, dem, wenn überhaupt, nur mit sehr
aufwändigen Schutz- und Filteranlagen begegnet werden kann,
was aber zuverlässige Messungen exponentiell verteuert. Folge
ist, dass ärmere Staaten kaum noch aussagekräftige Routineuntersuchungen
durchführen können. In diesen Ländern ist die Verseuchung
aber am höchsten, u.a. auf Grund schlechterer Umweltstandards.
In einer Welt, die multipel und
ubiquitär verseucht ist und die gleichzeitig unter Mangelernährung
leidet, gelingt es kaum noch die auslösenden Ursachen des geistigen
Verfalls eindeutig einzugrenzen.
Wie soll man in einer Gemeinde,
in der 20 Prozent der Einwohner schon wegen Jodmangels geistig behindert
sind, die Auswirkungen einer die Umwelt stark verschmutzenden Bleischmelze
auf die geistigen Fähigkeiten einschätzen? Williams
Vielleicht gibt es in der Nähe
noch drei weitere Chemiewerke und ein Atomkraftwerk? Ein wesentlicher
Grund für diese Schwierigkeiten der Wissenschaften ist die
Methodologie der analytischen Naturwissenschaften selbst.
Die analytischen Naturwissenschaften
wurden im 19ten und 20ten Jahrhundert entwickelt, um im großen
Stil die Natur industriellen Zwecken nutzbar zu machen. Die Wirkung
der Industrie auf Natur und Mensch war dagegen kein Gegenstand wissenschaftlichen
Erkenntnisinteresses. Dieser Fokus des Forschungsinteresses formt
die Wissenschaften bis heute, ungeachtet aller Umweltdebatten. Grundlegende
Paradigmenwechsel stehen noch aus.
Naturwissenschaft ist Modellwissenschaft. Modelle benötigen
aber abgeschlossene Bezugssysteme, mit einer überschaubaren
Zahl an Faktoren. Im Labor lassen sich die Wirkungen bestimmter
Substanzen auf neurologische Prozesse biochemisch überschaubar
untersuchen und es gelingt neurotoxische Kausalketten aufzuzeigen.
In einer multipel verseuchten Welt außerhalb des Labors lassen
sich vergleichbare Kausalketten nicht nachweisen. Man fordert von
der traditionellen Naturwissenschaft Unmögliches, wenn man
ihr Aussagen über Vorgänge außerhalb einer analytisch
definierten Laborsituation abverlangt. Bei einer unendlichen Anzahl
möglicher Faktoren und Wechselwirkungen gibt es keine eindeutige
Kausalität mehr.
Die Verursacher der Verseuchung
der Welt nutzen die methodologischen und Resourcen- Probleme der
Wissenschaften gerne für ihre Zwecke aus. Mit dem Hinweis "Es
muß noch weiter geforscht werden, die Resultate sind nicht
eindeutig" verhindern sie schadenminimierende, aber für sie
kostspielige Konsequenzen.
Das Versagen von Politik und Recht
Wenn man einem Kind mit
einem Hammer auf den Kopf schlägt und so eine Behinderung der
geistigen Fähigkeiten verursacht, gilt diese Tat als brutal,
der Täter als gewalttätig, so dass dem Betroffenen der
Rechtsweg offensteht, auf dem er Schadenersatzansprüche und
Schmerzensgeld geltend machen kann. Wenn man einen Wagen mit verbleitem
Benzin fährt und so bei unzähligen Kindern geistige Behinderung
auslöst, gilt dies nicht als gewalttätig und die Opfer
haben keinerlei Möglichkeit, an Schadenersatzzahlungen oder
Schmerzensgeld zu kommen. Williams
Die Logik des Rechtes ist mit
der Logik der Wissenschaften nicht kompatibel. Ein Richter benötigt
eindeutige Schuldbeweise, ein Wissenschaftler kann aber nur relativ
plausible Modelle und Wahrscheinlichkeiten liefern. Im Schadensfall
führt die unterschiedliche Logik von Wissenschaft und Recht
dazu, dass das Urteil für die giftige Chemikalie und ihre Verbreiter
in der Regel heißt: "Im Zweifel für den Angeklagten -
Freispruch." Zusätzlich wird die Situation durch eine unsystematische,
halbherzige und interessengeleitete Gesetzgebung weiter erschwert.
Das Bewusstsein für umweltbedingte Schädigungen der Menschen
hat sich erst relativ spät entwickelt. Die Umweltgesetzgebung
hatte in erster Linie den Umwelt- und Naturschutz zum Ziel, nicht
den Schutz der Menschen in dieser Umwelt. Williams bietet hierzu
umfangreiches Material aus der angelsächsischen Welt. Es finden
sich aber auch in der Geschichte der deutschen Umweltpolitik prominente
Beispiele: So wurde in Deutschland das Blei zum Schutze des Waldes
aus dem Benzin verbannt, nicht um die Menschen vor einer Bleivergiftung
zu bewahren. Angesichts des Schockes über die sterbenden Wälder
wurde von Umweltverbänden und Regierung die Einführung
des Katalysators forciert, dieser funktioniert aber nur mit bleifreiem
Benzin. Auch für die deutsche Automobilindustrie war die Einführung
des Katalysators in Deutschland kein Schade: In den USA war er vorgeschrieben,
die Produktion wurde also rationeller und für die französische
Konkurrenz, die hauptsächlich Kleinwagen nach Deutschland exportierte,
bedeutete das Ganze einen Dämpfer [5].
Der Stop der allgemeinen Bleivergiftung
der Bevölkerung war ein Nebeneffekt. Erst spät rückte
die direkte Bedrohung des Menschen in das Zentrum der Aufmerksamkeit.
Dementsprechend wurde versucht die allgemeinen Umweltgesetze, Haftungsrecht
und Verbraucherschutz auf die Verseuchung des Menschen anzuwenden
bzw. den Geltungsbereich der Arbeitsschutzbestimmungen auszudehnen.
Mit mäßigem Erfolg. Es gibt keine systematische Gesetzgebung,
die die Vergiftung der Menschen umfassend erfassen würde. Erschwerend
kommt hinzu, dass die Politik normalerweise hysterisch funktioniert.
Das Resultat sind eine Reihe einzelfallbezogener Sondergesetze,
die häufig mehr Schaden anrichten als Nutzen.
Aber auch allgemeine Gesetze
bieten nur bedingt Schutz. Das geltende Chemikalienrecht unterscheidet
zwischen "chemischen Altstoffen" und "neuen Stoffen". Strenge Zulassungsbestimmungen
gibt es nur für "neue Substanzen", "Altstoffe" bleiben ungetestet
im Gebrauch bis zum nächsten Skandal. Auch für "neue Substanzen"
gelten zumeist politisch festgelegte sogenannte "sichere Grenzwerte",
obwohl bei vielen Substanzen kein "Dosis-Wirkungszusammenhang" wissenschaftlich
nachgewiesen werden kann, d.h. jeder Kontakt mit solchen Substanzen
stellt eine Bedrohung dar.
Selbst wenn ein "Dosis-Wirkungszusammenhang"
wissenschaftlich nachgewiesen werden kann, werden die Grenzwerte
im besten Fall auf Grund von Untersuchungen festgelegt, die von
einem theoretischen "Durchschnittsmenschen" ausgehen, d.h. die erhöhte
Gefährdung von schwächeren und anfälligeren Menschen
wird aus dem politischen Bewusstsein ausgeblendet.
Die Hauptabsicht bei "sicheren
Grenzwerten" dürfte sein, dass die Ergebnisse für die
Regierung sicher sind, nicht für die Bevölkerung.
Das Versagen der menschlichen Intelligenz
Williams fasst den Vorgang
in folgende Formel: Die menschliche Intelligenz bedroht sich selbst,
sie weiß darum und dennoch beharrt sie auf der Selbstzerstörung.
Diese verstörende Beobachtung verleitet Williams zu weit reichenden
Spekulationen.
Vielleicht ist es eine im gesamten
Ökosystem einzigartige Eigenschaft der menschlichen Intelligenz,
die den Siegeszug des Menschen auf der Erde ermöglichte, die
ihm heute jedoch zur Bedrohung wird: die Beharrlichkeit. Das beharrliche
Verfolgen von großen kulturellen Plänen, die ganze Gemeinwesen
umfassen und über Generationen hinweg verfolgt werden, ist
etwas dem Menschen Spezifisches.
Die Geschichte lehrt uns, dass
wir so beharrliche Jäger gewesen sind, dass wir manche Arten
bis zur Ausrottung gejagt haben, so hartnäckige Sammler, dass
nichts mehr zum Sammeln da ist, so hartnäckige Förster,
dass die Wälder verschwinden, so hartnäckige Landkultivierer,
dass der Erdboden nicht mehr zu bebauen ist. Hartnäckig sture
und beharrliche Verhaltensweisen, wie etwa übermäßiger
Pestizideinsatz, "Automobilsucht" und unnötiges Konsumdenken
sind vielleicht mit einem "Kulturplan" vereinbar, sie scheinen mit
dem ökologischen Gleichgewicht jedoch unvereinbar zu sein.
Williams
Williams kommt so zu einer erstaunlichen
Schlusskette: Die menschliche Intelligenz zeichnet sich durch die
einzigartige Fähigkeit zur Beharrlichkeit aus. Diese Beharrlichkeit
ist mit den Prinzipien eines ökologischen Gleichgewichtes unvereinbar
und führt heute zu einer Zerstörung der menschlichen Intelligenz,
damit aber auch zu einer Zerstörung der "Beharrlichkeit".
Diesen Sachverhalt kann man als
einen Vorgang der Selbstzerstörung beschreiben: Ein ökologischer
Fremdkörper zerstört sich selbst. Man könnte ihn
aber auch aus der Perspektive des Ökosystems beschreiben: Das
Ökosystem passt einen unökologischen Fremdkörper
an. Eine Menschheit, die unter geistigem Verfall leidet, verliert
ihre Hartnäckigkeit und damit ihre Fähigkeit zur Zerstörung
der Natur.
Könnte das Ökosystem
sein Gleichgewicht dadurch aufrecht erhalten, dass es sich durch
GVU (geistiger Verfall aufgrund von Umwelteinflüssen) negativ
auf die "Modernität" auswirkt? Wie stark die Anzeichen dafür
auch sein mögen, diese Möglichkeit ist schwer zu akzeptieren
- vor allem, weil sie die Existenz eines Bewusstseins im nicht-menschlichen
Ökosystem impliziert. Anders ausgedrückt: Die Annahme,
dass das Ökosystem schlauer sein könnte als wir, würde
uns nicht gefallen. Es könnte aber klüger sein als wir,
ohne sich dessen bewußt zu sein. Immerhin war das unbewusste
Ökosystem schlau genug, unseren Geist zu erschaffen. Warum
sollte es nicht auch klug genug sein, ihn zu kontrollieren oder
zu zerstören? Williams
Uns kommt diese Überlegung
sehr angelsächsisch vor, offenbar ein Resultat des vom US-Kongress
1989 ausgerufenen "Jahrzehnt des Gehirns" und der Mode der Gehirnspekulationen
in der Folge.
Wer ist betroffen?
Mittelbar jeder, unmittelbar
die Einwohner der ärmeren Länder stärker als die
der reichen Länder und hier die ärmeren Bevölkerungsschichten
stärker als die Reicheren, jedoch demografisch betrachtet ist
das ganze Gemeinwesen existentiell getroffen. Denn ein allgemeiner
geistiger Verfall trifft die eher seltenen Exemplare intelligenter
Mitmenschen stärker als die Vertreter durchschnittlicher Intelligenz.
Ein Blick auf die übliche IQ-Glockenkurve offenbart das Problem.
Eigene Grafik
Die Grafik zeigt schwarz die übliche IQ-Kurve,
grün eine zweite Kurve, um 5 Punkte im IQ-Wert nach unten verschoben.
Rot gekennzeichnet sind die Intelligenzverluste der ersten Kurve
gegenüber der um 5 Punkte verschobenen Kurve. Wie man leicht
erkennen kann, sind die Verluste im oberen Intelligenzbereich signifikant
höher als im durchschnittlichen Intelligenzbereich.
In einer Population von 100 Millionen
würde man normalerweise davon ausgehen, dass 2,3 Millionen
einen IQ über 130 haben. Ein Rückgang um 5 Punkte reduziert
diese Zahl auf nur 990000 Menschen. Williams
Der gelbe Rand an der linken
Seite der Kurve zeigt die entsprechende Zunahme der Debilität.
Die Anzahl der Menschen mit einem IQ von 70 (Debilitätsgrenze)
verdoppelt sich in etwa.
Angesichts dieser Kurve kommt
man ins Grübeln. 5 IQ-Punkte im Durchschnitt weniger bedeutet
eine Halbierung der Anzahl der intelligenten Mitbürger und
eine Verdoppelung der Zahl der Debilen. Für unsere Gesundheitssysteme
wäre dies eine Katastrophe und für die ständig beschworene
Wissensgesellschaft das Ende. Und dennoch gibt es keine breite Debatte
über die Gefahren, die der Intelligenz von Umwelteinflüssen
drohen. Offenkundig ist Intelligenz in der neoliberalen Risikogesellschaft
kein bedeutsamer Wert mehr.
Denkt man an die Schrödersche
Agenda 2010 und ihre Auswirkungen auf die bundesdeutschen Intellektuellen,
verstärkt sich dieser Eindruck: Die Zusammenlegung von Sozialhilfe
und Arbeitslosenhilfe spart lächerliche 2 Milliarden im Haushalt,
trifft aber arbeitslose Wissenschaftler und Künstler ins Mark:
Intellektuelle Berufe sind, wenn sie nicht verbeamtet sind, prekäre
Berufe, häufiger Jobwechsel und auch länger andauernde
Zeiten der Arbeitslosigkeit sind durchaus üblich. Der Absturz
auf das Niveau der Sozialhilfe bedeutet für Intellektuelle
den gesellschaftlichen Ruin: Von Sozialhilfe kann man sich weder
einen Internetanschluss leisten noch Bücher oder Zeitschriften.
Die Agenda 2010 ist ein sozialpolitischer Frontalangriff auf die
deutsche Intelligenz, soweit sie nicht verbeamtet ist. Dieser Aspekt
der Agenda 2010 wird ebensowenig diskutiert wie die Umwelteinflüsse,
die das geistige Niveau der Gesellschaft bedrohen.
Ein erneuter Blick auf
die IQ-Kurve gibt Hinweise auf möglichen Gründe für
diese Tabus: Von einem Rückgang des IQ um 5 Punkte ist die
durchschnittliche Intelligenz am wenigsten betroffen. Vermutlich
wird die neoliberale Risikogesellschaft von einem geistigen Mittelmaß
dominiert, dem die Bedrohung der Intelligenz gleichgültig ist,
da sie sich selber nicht davon betroffen fühlt.
Was folgt? Was bleibt?
Für Williams muss
es die zentrale politische Aufgabe sein, dass wir die Gefahren des
geistigen Verfalls in das Zentrum der Aufmerksamkeit stellen und
die Sicherung geistiger Ressourcen politischen Vorrang vor allem
anderen erhält.
Jedoch: Die Gifte sind in der Welt. Wenn Blei auch im Benzin verboten
ist, wie viel Blei mag noch in den Kellern von Häusern lauern,
die an vielbefahrenen Straßen stehen... Der geistige Verfall
dürfte daher kaum aufzuhalten sein. Wir müssen lernen
mit ihm zu leben.
Ob es uns nun gefällt
oder nicht, in der nahen Zukunft wird die Welt immer mehr Menschen
aufweisen, die unter GVU (geistiger Verfall aufgrund von Umwelteinflüssen)
in verschiedenen Schweregraden leiden. Die Herausforderung besteht
nicht nur darin, dem mit einer angemessenen Daseinsvorsorge zu begegnen,
obwohl schon das eine ungeheure Aufgabe ist; die Herausforderung
besteht in der vollen sozialen Akzeptanz von Menschen, die an geistigem
Verfall leiden. Williams
Nicht nur die Demenz von an Alzheimer
erkrankten Rentnern, deren Zahl ja in nächster Zeit rasant
steigen soll, dürfte zum Problem, etwa für die Gesundheitskassen,
werden, auch die wachsende Jugenddemenz unseres Nachwuchses wird
die Fähigkeiten zur sozialen Akzeptanz auf eine harte Probe
stellen. Und dies nicht nur in den politischen Parteien...
Die Verblödung schreitet
voran. In einem weiteren Sinne ist dieser Artikel daher vielleicht
doch ein Artikel über neokonservative US-Think-Tanks oder über
den Niveauverfall der elektronischen Medien oder über die neueste
Sau, die durchs Dorf der bundesdeutschen "Reform"- Debatte getrieben
wird...
Auch wenn wir der Überlegung
skeptisch gegenüberstehen, dass die "ökologische Intelligenz"
machiavellistisch die Politik verblödet, um die unökologische
Gattung Mensch langfristig aus dem Ökosystem abzuräumen.
Christopher Williams: Endstation Gehirn. Die Bedrohung der menschlichen
Intelligenz durch die Vergiftung der Umwelt. Klett-Cotta [6], 2003.
Geb. mit Schutzumschlag, mit zahlr. Schaubildern. EUR [D] 25,00,
sFr 43,00, 400 Seiten, ISBN: 3-608-91015-8
Das Manifest
von Erice
Diese gemeinschaftliche
Erklärung wurde am 30. Mai 1996 von einer internationalen Gruppe
von Wissenschaftlern und Ärzten im Anschluss an einen Workshop
vom 5. bis 10. November 1995 im italienischen Erice veröffentlicht.
Hormone sind chemische Botenstoffe,
die sich im Blutkreislauf bewegen und lebenswichtige Körperfunktionen
an- und abschalten, um Gesundheit und Wohlergehen eines Menschen
zu erhalten. Insgesamt genommen nennt man die Gewebe und Organe,
die Hormone erzeugen und auf sie reagieren, das System der inneren
Sekretion. Die Erklärung von Erice lenkt die Aufmerksamkeit
auf Industriechemikalien, welche die Entwicklung des Gehirns und
anderer Teile des zentralen Nervensystems stören und schädigen
können.
Der Hintergrund
Die Ergebnisse der seit
1991 erfolgten Forschung haben die Sorgen über den Umfang der
Probleme, die der menschlichen Gesundheit und den ökologischen
Systemen durch Chemikalien drohen, welche die innere Sekretion stören
oder behindern, zunehmend verstärkt. Neuere Forschungsergebnisse
sind besonders besorgniserregend, weil sie die unerhörte Empfindlichkeit
des sich entwickelnden Nervensystems gegenüber chemischen Störungen
unterstreichen, die Funktionsanomalien zur Folge haben. Überdies
sind die Konsequenzen dieser Störungen vom Entwicklungsstadium
abhängig, in dem ein Mensch der Chemikalie ausgesetzt ist,
und findet zu verschiedenen Zeiten im Leben jeweils anderen Ausdruck,
angefangen bei der Geburt bis hin zum vorgerückten Alter. Diese
Arbeitssitzung wurde wegen der zunehmenden Besorgnis geplant, daß
es schwere ökonomische Implikationen und unerwünschte
Folgen für die Gesellschaft insgesamt haben könnte, wenn
man sich nicht bemüht, diesem Problem zu Leibe zu rücken.
Gemeinsame
Erklärung
1. Wir sind von folgendem
überzeugt:
Chemikalien, welche die Funktion
der inneren Sekretion stören oder behindern, können die
neurologische und verhaltensmäßige Entwicklung der Menschen
untergraben, die diesen Chemikalien im Mutterleib ausgesetzt sind,
oder wenn bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln die
Eier mit diesen Chemikalien in Berührung kommen. Dieser Verlust
von Potential bei Menschen und wildlebenden Tieren zeigt sich in
körperlichen wie in verhaltensmäßigen Anomalien.
Er kann sich in verringerter geistiger Kapazität und sozialer
Anpassungsfähigkeit zeigen, als beeinträchtigtes Reaktionsvermögen
auf Anforderungen der Umwelt oder in einer Vielzahl anderer Funktionsstörungen
auftreten. Ein weit verbreiteter Verlust dieser Art in der Natur
kann den Charakter menschlicher Gesellschaften verändern oder
wildlebende Tierpopulationen destabilisieren. Weil spürbare
ökonomische und soziale Konsequenzen die Folge selbst kleiner
Veränderungen im Funktionspotential auf der Ebene ganzer Populationen
sind, ist es unerlässlich, die Werte der Verseuchungsstoffe
bei Menschen, Tieren und in der Umwelt zu überwachen, die für
die Störung des Nervensystems und der inneren Sekretion verantwortlich
sind. Überdies muss man sich darum bemühen, ihre Produktion
ebenso wie ihre Emission in die Umwelt zu verringern.
Weil das endokrine System für
Störungen so empfindlich ist, wird es leicht zum Ziel von Störungen.
Im Gegensatz zu natürlichen Hormonen, die man in Tieren und
Pflanzen findet, sind einige der Komponenten und Nebenprodukte vieler
industriell hergestellter organischer Verbindungen, die das endokrine
System stören, langlebig und breiten sich in der Nahrungskette
aus, was sie als Gefährdungspotential für die innere Sekretion
noch besorgniserregender macht.
Solche vom Menschen hergestellte
Chemikalien finden sich auf allen Kontinenten und in allen Weltmeeren.
Man findet sie bei einheimischen Populationen von der Arktis bis
in die Tropen, und weil sie sich im Körper lange halten, können
sie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Schwere
des Problems wird noch durch die extrem geringen Hormonwerte gesteigert,
die das endokrine System auf natürliche Weise erzeugt und die
nötig sind, um angemessene Reaktionen zu modulieren und auszulösen.
Im Gegensatz dazu zeigen sich viele solcher Verseuchungsstoffe,
die das endokrine System stören, in lebendem Gewebe in Konzentrationen,
die millionenmal höher sind als die natürlichen Hormone,
selbst wenn sie in ihrer Wirkung weniger stark sind als die natürlichen
Produkte. Wild lebende Tiere, Labortiere und Menschen weisen Gesundheitsschädigungen
auf, wenn sie synthetischen Chemikalien ausgesetzt sind, die das
endokrine System stören, wie sie gegenwärtig in den vorhandenen
Konzentrationen in der Umwelt zu finden sind. Neue Techniken haben
enthüllt, daß einige künstlich hergestellte Chemikalien
gegenwärtig im Körpergewebe in Konzentrationen vorhanden
sind, die man früher mit konventionellen Analysemethoden nicht
messen konnte, die aber gleichwohl biologisch aktiv sind.
Die Berührung während
der Schwangerschaft mit langlebigen künstlichen Chemikalien
erinnert daran, dass Frauen lebenslang diesen Chemikalien ausgesetzt
sind, bevor sie schwanger werden. Somit ist die Übertragung
von Verseuchungsstoffen auf den sich entwickelnden Embryo und den
Fetus während der Schwangerschaft und auf das Neugeborene in
der Zeit des Stillens nicht einfach eine Funktion der Tatsache,
dass die Mutter erst kurze Zeit diesen Schadstoffen ausgesetzt gewesen
ist. Im Tierreich ist bei einigen Eier legenden Arten die körperliche
Belastung der Weibchen kurz vor der Ovulation die kritischste Periode.
Bei Säugetieren sind die Mütter während der gesamten
pränatalen und frühen postnatalen Entwicklung solchen
Schadstoffen, welche die innere Sekretion stören, ausgesetzt,
weil sie in der Mutter gespeichert sind.
Das sich entwickelnde Gehirn
weist spezifische und oft schmale zeitliche Fenster auf, in denen
die Berührung mit solchen Schadstoffen, welche die innere Sekretion
stören, dauerhafte Veränderungen in Struktur und Funktion
des Gehirns auslösen können. Der Zeitpunkt des Kontakts
ist in den frühen Entwicklungsstadien ausschlaggebend, besonders
in der Zeit der Entwicklung des Fetus, in der es zu einer festgelegten
Sequenz struktureller Veränderungen kommt, bevor sich Schutzmechanismen
entwickelt haben. Eine Vielzahl chemischer Herausforderungen in
der Frühzeit des Lebens können bei Menschen und Tieren
zu tiefgreifenden und unumkehrbaren Anomalien der Gehirnentwicklung
führen, und das bei Kontakten mit den Schadstoffen, die bei
Erwachsenen keine dauerhaften Wirkungen hervorrufen.
Schilddrüsenhormone sind während des ganzen Lebens für
normale Gehirnfunktionen unerlässlich. Störungen der Schilddrüsenfunktion
in der Zeit der Entwicklung führen zu Anomalien des Gehirns
und bei der Entwicklung des Verhaltens. Die späteren Ergebnisse
in Form mäßiger bis schwerer Veränderungen der Schilddrüsenhormon-Konzentrationen,
besonders in der Zeit der fetalen Entwicklung, sind motorische Störungen
unterschiedlicher Schwere, darunter Gehirnlähmung, geistige
Zurückgebliebenheit, Lernbehinderungen, Aufmerksamkeitsdefizite
kombiniert mit Hyperaktivität, Hydrocephalus, epileptische
Anfälle und andere dauerhafte neurologische Anomalien. Ähnlich
kann die Berührung mit industriell hergestellten Chemikalien
in der frühen Entwicklung die motorischen Funktionen beeinträchtigen,
die räumliche Wahrnehmung, die Lernfähigkeit, die Gedächtnisleistung,
die Entwicklung des Gehörs, die Koordination der Feinmotorik,
das Gleichgewichtsgefühl und verschiedene Lernprozesse; in
schweren Fällen kann geistige Zurückgebliebenheit das
Ergebnis sein.
Die sexuelle Entwicklung des
Gehirns erfolgt unter dem Einfluss von Östrogenen bei der Frau
und Testosteronen beim Mann. Nicht alle Substanzen, welche die innere
Sekretion beeinträchtigen, wirken sich jedoch Östrogen-fördernd
oder Östrogen-schädlich aus. So haben beispielsweise neue
Daten enthüllt, daß DDE, ein Zerfallsprodukt von DDT,
das sich in fast allem lebendem Gewebe findet, bei Säugetieren
Testosteron-schädlich wirkt. Künstlich hergestellte Chemikalien,
welche die Geschlechtshormone beeinträchtigen, werden das Potential
besitzen, die normale sexuelle Entwicklung des Gehirns zu stören.
Studien wildlebender Tiere, etwa von Möwen, Seeschwalben, Fischen,
Walen, Delphinen, Alligatoren und Meeresschildkröten bringen
Giftstoffe in der Umwelt mit Störungen bei der Produktion von
Geschlechtshormonen und/oder deren Funktion in Verbindung. Diese
Wirkungen hat man durch den Kontakt mit Abwasser und Industrieabwässern,
Pestiziden, umlaufender Verseuchung in den Weltmeeren und in Süßwasser
sowie der Nahrungskette im Wasser in Verbindung gebracht.
Artenübergreifende Gemeinsamkeiten
bei den hormonalen Mechanismen, welche Gehirnentwicklung und - funktion
steuern, bedeuten, dass bei wild lebenden Tieren und Labortieren
beobachtete schädliche Wirkungen auch bei Menschen möglich
sind, obwohl spezifische Wirkungen von Art zu Art verschieden sein
können. Am bedeutsamsten aber ist, dass die gleichen synthetischen
Chemikalien, die bei Studien über Labortiere diese Wirkungen
gezeigt haben, auch bei Menschen ein hohes Kontaktpotential besitzen.
Die ganze Bandbreite von Substanzen,
die in die natürlichen endokrinen Modulationen der neuralen
und verhaltensmäßigen Entwicklung eingreifen, kann gegenwärtig
noch nicht umfassend bestimmt werden. Zu den Verbindungen jedoch,
bei denen Auswirkungen auf die innere Sekretion nachgewiesen worden
sind, gehören Dioxine, PCB's, Phenole, Phthalate und viele
Pestizide. Alle Verbindungen, welche die Tätigkeit von Neurotransmittern,
Hormonen und Wachstumsfaktoren im sich entwickelnden Gehirn nachahmen
oder ihr entgegenwirken oder die entsprechenden Werte verändern,
gehören potentiell zu dieser Gruppe.
2. Wir schätzen Folgendes mit einiger Gewißheit:
Jede schwangere Frau in
der Welt hat Substanzen im Körper, welche die innere Sekretion
stören und auf den Fetus übertragen werden. Sie hat auch
meßbare Konzentrationen solcher Substanzen in der Muttermilch,
die auf den Säugling übertragen werden. Es kann sein,
dass es für Reaktionen auf solche Stoffe, die die innere Sekretion
stören, keine definierbaren Schwellenwerte gibt. Hinzu kommt,
dass bei natürlich vorkommenden Hormonen eine zu große
Menge ein ebenso schweres Problem sein kann wie eine zu geringe.
Infolgedessen sind einfache (monotone) Reaktionskurven für
Toxizität bestimmter Dosen nicht unbedingt auf die Auswirkungen
von Schadstoffen anwendbar, welche die innere Sekretion schädigen.
Weil von bestimmten PCB's
und Dioxinen bekannt ist, dass sie die normale Funktion der Schilddrüse
beeinträchtigen, haben wir den Verdacht, dass sie zu Lernbehinderungen
beitragen, darunter auch zum Syndrom von Aufmerksamkeitsdefiziten
und Hyperaktivität und vielleicht auch zu anderen neurologischen
Anomalien. Hinzu kommt, dass viele Pestizide die Schilddrüsenfunktion
beeinträchtigen und aus diesem Grund vielleicht ähnliche
Konsequenzen haben. Manche Substanzen, die sich auf die innere Sekretion
auswirken, oder deren Zerfallsprodukt sind fast genauso stark wie
natürliche Hormone. Selbst schwache Substanzen dieser Art können
starke Wirkungen auslösen, weil sie den natürlichen Schutz
blutbindender Proteine für die natürlichen Hormone umgehen
können. Manche dieser Substanzen haben auch eine erheblich
längere biologische Halbwertzeit als natürlich erzeugte
Hormone, weil sie nicht ohne weiteres vom Stoffwechsel verarbeitet
und infolgedessen im Körper eingelagert werden und sich zu
besorgniserregenden Konzentrationen ansammeln. Einige industriell
hergestellte Chemikalien, die nichttoxisch zu sein scheinen, werden
von der Leber in toxische Verbindungen umgewandelt. Überdies
können sich Verbindungen, die bei der Mutter nicht toxisch
sind, bei dem sich entwickelnden Embryo, Fetus oder Säugling
durchaus als toxisch erweisen. Die besondere Anfälligkeit des
fetalen Gehirns gegenüber Methylquecksilber und Blei sind anschauliche
Beispiele dieses Prinzips.
Funktionsdefizite sind nicht
so leicht meßbar wie körperliche Anomalien oder klinische
Erkrankungen, was zum Teil daran liegt, dass sie typischerweise
in Form eines Kontinuums gemessen werden - wie etwa der IQ - statt
nach der Zahl der Fälle in einer Population. Folglich kann
es passieren, dass konventionelle Populationsuntersuchungen das
Ausmaß solcher Defizite übersehen. Weil solche Untersuchungen
überdies dazu neigen, ihre Erkenntnisse als Veränderungen
von Durchschnittswerten darzustellen, selbst wenn sie auf angemessenen
Maßnahmen basieren, neigen sie dazu, Einflüsse auf die
empfänglicheren Mitglieder der Population zu verdunkeln.
Große Mengen
industriell hergestellter Chemikalien, die in der Lage sind, das
endokrine und das Nervensystem zu schädigen, werden an Länder
der Dritten Welt verkauft oder dort produziert und benutzt - an
Länder, denen die Ressourcen oder die Technologie fehlen, genau
zu überwachen und zu kontrollieren, inwieweit die Bevölkerung
den jeweiligen Substanzen ausgesetzt wird. Ungenügende und
unangemessene Ausbildung beim Umgang mit Chemikalien sowie Unwissenheit
in Fragen der Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und in
Bezug auf Überwachungsstrategien führen zu der Wahrscheinlichkeit
sehr hoher Kontaktwerte.
3. Einige Gründe für
die Ungewißheiten unseres Wissens:
Niemand bleibt ohne jeden Kontakt
zu solchen schädlichen Chemikalien, womit Studien zur Feststellung
dessen, was normal ist, ungenau werden. Jeder Mensch ist in jedem
Moment und lebenslang einer großen Zahl industriell hergestellter
Chemikalien ausgesetzt. Nur relativ wenige dieser Chemikalien, die
man in menschlichem Gewebe findet, sind inzwischen erkannt und bestimmt
worden. Geldmangel hat Tests dieser Chemikalien auf ihr Potential
zur Schädigung natürlicher Systeme bislang ernsthaft behindert.
Empfindliche Parameter, darunter
neurologische Anomalien, Verhaltensstörungen und neuropsychiatrische
Störungen sowie neuroanatomische, neurochemische und neurophysiologische
Endpunkte müssen erforscht werden. Am wichtigsten ist aber,
dass Kriterien auf Populationsebene die sozialen und ökonomischen
Kosten von Beeinträchtigungen einschließen müssen,
weil die wirklichen Kosten für die Gesellschaft, die infolge
solcher Probleme entstehen, erheblich sein können, beispielsweise
ein IQ-Verlust von fünf Punkten bei der Gesamtbevölkerung.
Untersuchungen potentieller Toxizität schließen typischerweise
Labor-, Population- und Feldstudien ein, klinische Berichte und
Unfallberichte. Neurotoxine, die sich schädigend auf die Entwicklung
auswirken, lösen ein ganzes Spektrum von Wirkungen aus, die
typischerweise nicht bewertet werden, etwa das Fortschreiten und
die Latenz von Veränderungen im Verhalten sowie neurologische
Veränderungen. Hinzu kommt, dass eine Veränderung anderer
Systeme anschließend zu kognitiven, verhaltensmäßigen
und neurologischen Fehlfunktionen führen kann: das heißt,
zu Krankheiten anderer Organsysteme, die das Gehirn beeinflussen;
ebenso Medikamente, die nicht auf das Zentralnervensystem einwirken,
sowie andere fremde Substanzen, etwa luftverschmutzende Substanzen,
sowie Mitwirkungen des Immunsystems, die das Verhalten verändern.
Gesetze über
den Geheimhaltungsschutz in der Wirtschaft bieten der Industrie
Vertraulichkeit, berauben den Verbraucher und die Gesundheitsbehörden
aber des Rechts zu wissen, welche Bestandteile Handelsprodukte enthalten,
so dass diese getestet werden können.
4. Somit kommen wir zu folgender Einschätzung:
Die Vorteile geringerer Kosten
könnten erheblich sein, wenn es gelingt, den Kontakt der Menschen
mit Chemikalien zu verringern, die zu Beeinträchtigungen der
inneren Sekretion führen.
Ein sehr geringer
Anteil der Mittel der öffentlichen Hand wird für die Überwachung
von Umweltchemikalien und deren Auswirkungen auf die Gesundheit
verwendet. Die Öffentlichkeit ist sich dessen nicht bewusst
und glaubt, angemessen geschützt zu sein. Die Botschaft, dass
Chemikalien, die sich schädlich auf das endokrine System auswirken,
in der Umwelt vorhanden sind und das Potential besitzen, viele Menschen
im Lauf ihres Lebens zu schädigen, ist noch nicht wirksam ins
Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt, aber auch
bei Wissenschaftlern, Entscheidungsträgern in der Verwaltung
oder Politikern nicht wirksam verankert. Obwohl diese Botschaft
sich nur mit Mühe auf einfache Erklärungen reduzieren
ließe, ohne dass das Problem über- oder unterschätzt
wird, sind die potentiellen Gefahren für die Gesundheit der
Menschen so weit verbreitet und weit reichend, dass jede Politik,
die weiterhin auf Unwissenheit um die Tatsachen beruht, nur als
skrupellos bezeichnet werden kann.
Das Ergebnis der
Berührung mit solchen Chemikalien wird nicht angemessen bekämpft,
wenn die Maßnahmen nur auf Populations-durchschnitten basieren.
Statt dessen sollte das Risiko auf der Bandbreite von Reaktionen
in einer Population beruhen - das heißt, auf der gesamten
Verbreitung. Das Ausmaß des Problems lässt sich besser
bestimmen, wenn man die Verteilung der Reaktionen auf solche Chemikalien
von Individuen innerhalb von Untergruppen der gefährdetsten
Population kennt, etwa bei schwangeren Frauen, Embryonen, Feten
und Neugeborenen, bei Jugendlichen und Heranwachsenden, Alten, Kranken
oder Personen mit schon vorhandenen Störungen der inneren Sekretion.
Die Größenordnung der Risiken hängt überdies
vom fraglichen Endpunkt, das heißt der gesundheitlichen Auswirkung,
ab. So muss man beispielsweise bei der Einschätzung einer neurologischen
Funktion eine Vielfalt motorischer, sensorischer, verhaltensmäßiger
und kognitiver Funktionen berücksichtigen, Endpunkte, die empfindlicher
sind als Krebs. Dies gilt nicht nur bei menschlichen Populationen,
sondern auch bei Tieren, ob wild lebend oder domestiziert.
Wild lebende Tiere
sind für das Verständnis endokriner Störungen auf
molekularer, zellularer, individueller, populationsmäßiger
und Öko-Systemebene wirkungsvolle Modelle gewesen. Künftige
Forschungsarbeiten zur Untersuchung verschiedener wild lebender
Tierarten auf allen Ebenen der biologischen Organisation müssen
erweitert und angemessen unterstützt werden.
Wer für die Herstellung
industriell produzierter Chemikalien verantwortlich ist, muss die
Produktsicherheit über jeden begründeten Zweifel hinaus
sicher stellen. Von den Herstellern sollte verlangt werden, dass
sie die Namen aller Chemikalien bekannt geben, die in ihren Produkten
verwendet werden, und überdies glaubwürdig belegen, dass
die Produkte kein gesundheitliches Entwicklungsrisiko darstellen.
Heutige Wissenschaftlergremien,
die über die Verteilung öffentlicher Forschungsgelder
entscheiden, verfügen oft nur über einen engen Rahmen
von Fachwissen und sind somit schlecht dafür gerüstet,
die Art interdisziplinärer Forschung zu überwachen, die
auf diesem Gebiet notwendig ist. Institutionen, die Forschungsgelder
bereitstellen, sollten dazu ermuntert werden, bei Prüfungsgremien
den Umfang der Darstellung zu erweitern und angemessenere Verfahren
für interdisziplinäre Prüfungen zu entwickeln. Regierungsbehörden
sollten überdies die Geldmittel für nicht universitätsgebundene
interdisziplinäre Vorhaben zur Überwachung wild lebender
Tiere und menschlicher Populationen stärker fördern, wo
neurologische Schäden befürchtet werden, sowie Hinweisen
mit Laborversuchen nachgehen. Zusätzlich sollten Tierpopulationen,
welche kontaminierte Nahrung aufnehmen, die auch von Menschen gegessen
wird, auf gesundheitliche Entwicklungsschäden hin untersucht
werden. Es ist von großer Bedeutung, dass eine Vielzahl von
Wirbeltierarten mit Hilfe von generationsübergreifenden Studien
beobachtet werden.
Strategien zur Steigerung
der interdisziplinären Kommunikation sowie Zusammenarbeit zur
Optimierung der Ressourcen und künftiger Forschungsarbeit sind
notwendig. Studien sollten ökonomischer darauf angelegt sein,
dass möglichst viele Forscher sich die vorhandenen Materialien
teilen. Interdisziplinäre Teams sollten neurologische und andere
Arten von Schädigungen auf allen Ebenen biologischer Organisation
erforschen, angefangen bei molekularen Schädigungen über
biochemische und physiologische bis hin zu verhaltensmäßigen.
Es sollten gemeinschaftliche
Anstrengungen unternommen werden, um diese gemeinsame Erklärung
in der Öffentlichkeit bekannt zu machen sowie wichtige Entscheidungsträger
und die Medien entsprechend zu informieren. Zusätzlich sollten,
etwa für Hausärzte und andere, die für die allgemeine
Gesundheitsvorsorge verantwortlich sind, besonders aufbereitete
Materialien erarbeitet werden, da dieser Personenkreis oft nicht
darüber informiert ist, welche denkbare Rolle chemische Schadstoffe,
die sich in Umwelt oder Berufsleben auswirken, als Auslöser
"primärer" Krankheiten beim Menschen Risikofaktoren darstellen
können. Angehende Ärzte müssen auf der Universität
über die oft latenten Auswirkungen von Schadstoffen auf Entwicklung
und Gesundheit des Menschen ausgebildet werden. Dieser Teil der
ärztlichen Ausbildung ist gegenwärtig noch ungenügend.
Ferner sollten ein zentrales Informationsbüro und Online-Systeme
im Internet eingerichtet werden, um Informationen über Chemikalien
bereitzuhalten, die sich schädlich auf das endokrine System
auswirken.
Das
Manifest wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem besprochenen
Buch "Endstation Gehirn" von Christopher Williams entnommen. Ulrich
Berger/ Christoph Stein
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