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Position zum Entwurf eines Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität

vorgestellt im Rahmen der Anhörung auf Einladung des BMU am 6. August 2001

Der Gesetzgeber soll die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 (sogenannter Atomkonsens) umsetzen. Er soll ein neues Gesetz schaffen. Er muß dabei willkürfrei verfahren durch Berücksichtigung der Rangzuordnung der Grundrechte. Und er muß plausibel handeln durch Verbesserung des Grundrechtsschutzes.

Der BBU nimmt die Anhörung am 6. August 2001 als Gelegenheit wahr, die Mitglieder des Bundestages und die Öffentlichkeit auf die Auswirkungen dieser Regelungen auf den Schutz des Grundrechts der betroffenen Bürgerinnen und Bürger hinzuweisen.

 

1. Die bisherige Rechtslage als Voraussetzung für die Bewertung des Gesetzentwurfs

Beurteilungsmaßstab: Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1978

Den Beurteilungsmaßstab zur Bewertung der beabsichtigten Neuordnung des Kernenergierechts bildet die Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1978.

Die normative Grundsatzentscheidung für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung der Kernenergie hat weitreichende Auswirkungen auf den Freiheits- und Gleichheitsbereich der Bürger, das heißt: auf ihre in der Verfassung garantierten Schutzrechte, und auf die allgemeinen Lebensverhältnisse. Deshalb ist allein der Gesetzgeber berufen sie zu treffen. In seine Entscheidung muß er von Verfassungs wegen die Überprüfung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Gefahren der Kernenergie einbeziehen.

Wichtigster Grundsatz ist die "Unabdingbarkeit größtmöglichen Schutzes für Leben und körperliche Unversehrtheit vor den Gefahren der Kernenergie".

Das noch geltende Atomgesetz ist nur deshalb verfassungsgemäß, weil § 7 Abs. 2 Satz 3 fordert: Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage getroffen ist". Diese Vorschrift ist in die Zukunft hin offen, denn der Grundrechtsschutz muß dynamisch sein, er muß schritthalten mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse.

Ist durch anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisverfahren ermittelt, daß es keine technischen Vorkehrungen zur Eindämmung von zu erwartenden Schäden gibt, schließt die Genehmigung den weiteren Betrieb der Anlage aus.

Die aus diesen Regelungen sich ergebende Rechtsunsicherheit müssen die Atomkraftwerksbetreiber sich zumuten lassen.

Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse: Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke DRS

Der Gesetzgeber hat anhand der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu prüfen, ob es durch die weitere Nutzung der Atomenergie zu Schäden kommen kann, die sich als Grundrechtsverletzungen darstellen. Grundlage dafür ist heute die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke DRS Phase B.

Zur Zeit der Kalkar-Entscheidung galten Unfallabläufe mit Kernschmelze als wissenschaftlich nicht erwiesen, durch sie verursachte Schäden wurden bei der Genehmigung von Atomkraftwerken nicht berücksichtigt. Mit der DRS sollte untersucht werden, ob es in den deutschen Atomkraftwerken zu Kernschmelzunfällen kommen kann und welche Schadensfolgen sie haben würden.

Schon mit der Veröffentlichung des ersten noch vorläufigen Teils der DRS 1979 (DRS-A) mußte bestätigt werden, daß es auch in deutschen Atomkraftwerken zu Unfallabläufen mit Kernschmelze kommen kann. Die Arbeiten wurden fortgesetzt.

Die Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke (DRS-B) wurde 1989 veröffentlicht.

Der bisher nicht beachtete Kernschmelzunfall bei hohem Druck im Primärkreis (HD-Kernschmelzen) mußte nun berücksichtigt werden. Im Augenblick, wenn der Boden des Reaktordruckbehälters durchschmilzt, schießt der obere Teil des Reaktordruckbehälters raketenartig nach oben und zerstört den Sicherheitsbehälter. Sofort werden große Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt freigesetzt. Es kommt zu zahlreichen Erkrankungen mit Todesfolge. Die Bewohner eines Gebiets zwischen 10 000 km² bis über 100 000 km² müssen nicht nur zeitweilig evakuiert, sondern dauerhaft umgesiedelt werden. Dies sind sehr weitreichende Auswirkungen auf die in der Verfassung garantierten Schutzrechte der Bürgerinnen und Bürger und auf die allgemeinen Lebensverhältnisse.

Der Sicherheitsbehälter der derzeit betriebenen Atomkraftwerke kann gegen das raketenartige Durchbrechen des Reaktordruckbehälters beim HD-Kernschmelzen nicht verstärkt werden. Abhilfe zum Schutz vor dieser Gefahr ist daher nicht möglich.

Die Gefahr eines Kernschmelzunfalls mit frühzeitiger Zerstörung des Sicherheitsbehälters besteht, so lange überhaupt noch ein Atomkraftwerk betrieben wird. Nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik können die Schäden, die mit einem schweren Kernschmelzunfall und seinen Folgen verbunden sind, nur durch die sofortige Stilllegung aller Atomkraftwerke verhindert werden.

Anerkennung der Erkenntnisse aus der DRS-B durch die frühere Regierungskoalition

Die Erkenntnisse aus der DRS-B sind unstreitig. Der Gesetzgeber hat sie 1994 anerkannt. Mit dem § 7 Abs. 2a Satz 1 AtG schrieb er für zukünftig zu bauende Reaktoren vor: Vorsorgemaßnahmen gegen Kernschmelzunfälle müssen so beschaffen sein, daß es nicht zu Freisetzungen kommt, die zum Schutz vor den zu erwartenden Schäden einschneidende Maßnahmen wie eine zeitweilige Evakuierung erforderlich machen.

Bei den derzeit betriebenen Atomkraftwerken ist beim Eintreten eines Kernschmelzunfalls die weit tiefer einschneidende dauerhafte Umsiedlung erforderlich. Die Anwendung dieser Erkenntnis auf die in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke hätte das sofortige Erlöschen der Genehmigungen zur Folge. Die damalige Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP verhinderte dies, indem sie in § 7 Abs. 2a Satz 2 diesen Anlagen Bestandsschutz zusicherte.

 

2. Analyse des Gesetzentwurfs auf Willkürfreiheit und Plausibilität

Titel und Grundkonzept des beabsichtigten Gesetzes: Der Titel des beabsichtigten Gesetzes lautet: Entwurf eines Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität. Das noch geltende Atomgesetz hat den Titel: Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz). Warum enthält der neue Titel keinen Hinweis auf den Schutz gegen die Gefahren der Kernenergie? Die Antwort ergibt sich aus dem Zusammenwirken der Änderungen, in denen das Grundkonzept der Vereinbarung vom 14. Juni 2000 umgesetzt ist.

(Die im Folgenden genannten Nrn. beziehen sich auf die Nrn. des Gesetzentwurfs.)

Garantie von Produktionsrechten

Nr. 6 b: Einfügung der Absätze 1a bis 1d in den § 7: Mit der Vereinbarung vom 14. Juni 2000 wurden der Atomwirtschaft Stromproduktionsrechte zugesichert. Mit den neu in § 7 eingefügten Absätzen 1a bis 1d soll die vereinbarte Reststrommengen-Regelung umgesetzt werden. Sie enthalten Bestimmungen zur Kontrolle der noch ermöglichten Stromproduktion in Höhe von insgesamt 2.623,31 TWh, einschließlich einer Reststrommenge für das illegal betriebene Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich von 107,25 TWh. Im Rahmen dieser Regelungen haben die Betreiber weitestgehende Entscheidungsfreiheit bei der Kapitalverwertung.

Jede vorzeitige Stilllegung einer Anlage vor der Abarbeitung der für sie festgesetzten Strommenge hat die Verschiebung der Stilllegung anderer Atomkraftwerke in die Zukunft zur Folge. Die Genehmigung für das zuletzt noch betriebene Atomkraftwerk erlischt nicht, wenn nicht nur die für diese Anlage festgelegte Reststrommenge, sondern auch die Strommengen aus den den Betreibern zugestandenen Übertragungen produziert sind.

Am Beispiel Neckarwestheim 2 werden die Auswirkungen dieser Regelungen erkennbar: Dieses Atomkraftwerk ging am 15.04.1989 in Betrieb. Ginge man von einer fest begrenzten Laufzeit von 32 Jahren aus, würde es noch bis 2021 betrieben. Da Reststrommengen von vorzeitig stillgelegten Anlagen auf die jüngeren Anlagen übertragen werden sollen, wird seine Betriebszeit erheblich verlängert. Zusammen mit einem Teil der Reststrommenge von Mülheim-Kärlich wird der Zeitpunkt des Erlöschens der Betriebsgenehmigung für Neckarwestheim 2 um mehrere Jahre in unbekannte Zeit hinausgeschoben. Entsprechendes gilt für die Atomkraftwerke Emsland/Lingen und Isar 2.

Die Einbeziehung von Mülheim-Kärlich in die Reststrommengen-Regelung hat noch eine weitere Wirkung. Sollte ein Kläger vor Gericht die Stilllegung eines Atomkraftwerks vor Abarbeitung der Reststrommenge erreichen, dann wird der beklagte Betreiber dadurch keinen wirtschaftlichen Verlust erleiden, denn unter Berufung auf den Präzedenzfall Mülheim-Kärlich kann er geltend machen, dass er die noch nicht produzierte Strommenge auf andere Anlagen übertragen kann.

An die Stelle der Rechtsunsicherheit, die den Betreibern auf Grund des erforderlichen Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit zugemutet werden muß, tritt Planungssicherheit durch eine Produktionsgarantie für die Kapitalverwertung.

Das Eintreten eines Kernschmelzunfalls wird erst in unbekannter Zukunft, nach Beendigung der Stromproduktion des letzten betriebenen Atomkraftwerks, vermieden.

Wegfall des Schutzes vor den Gefahren der Kernenergie

Werden den Atomkraftwerksbetreibern langdauernde Produktionsrechte garantiert, muß das Auswirkungen haben auf die Dynamik des Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit.

Nr. 19: Einfügung von § 19a: Die schon unter der früheren Regierungskoalition eingeführte Praxis der Sicherheitsüberprüfungen wird durch gesetzliche Regelung abgesichert. Ziel dieser Überprüfungen ist, festzustellen, ob die Anlage sich noch in einem Zustand befindet, der den Anforderungen der ursprünglichen Genehmigung entspricht, und ob die Beanspruchung einzelner Komponenten erhöht werden kann, um eine höhere Auslastung der Anlage und kostengünstigere Produktion zu erreichen. In den bisher verwendeten Leitfaden ist der Wissensstand über Kernschmelzereignisse nicht einbezogen worden. Bei Beibehaltung dieser heutigen Bedingungen gewährleistet die Bundesregierung bis zur endgültigen Abarbeitung der garantierten Stromproduktionsrechte, daß der Betrieb der Anlagen nicht durch weitergehende Schutzforderungen gestört wird.

Nr. 6 d: Streichung von § 7 Abs. 2a: Zwar wird der Neubau von Atomkraftwerken verboten. Jedoch wird mit der vollständigen Streichung von § 7 Abs. 2a der Hinweis auf die Erkenntnisse über Kernschmelzunfälle, die der Gesetzgeber 1994 in § 7 Abs. 2a Satz 1 als Genehmigungsvoraussetzung für neue Atomkraftwerke bereits anerkannt hatte, aus dem Gesetzestext ausgelöscht.

Zur Beibehaltung des § 7 Abs. 2 Satz 3: Zwar wird der Wortlaut des § 7 Abs. 2 Satz 3, aus dem sich die Verfassungsmäßigkeit des Atomgesetzes ableitete, beibehalten. Er wird jedoch durch das Zusammenwirken der neuen Regelungen, durch die die Umsetzung der Erkenntnisse über Kernschmelzunfälle verhindert wird, seiner dynamischen Schutzwirkung für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit vollständig entkleidet und in ein bloßes Werkzeug zur Absicherung von Produktionsrechten der Betreiber umgewandelt.

Anmerkungen zu den Entsorgungsproblemen: Die erheblichen Vorteile für die Lösung der Entsorgungsprobleme durch sofortige Beendigung der Stromproduktion in Atomkraftwerken werden nicht genutzt.

Die neu zu errichtenden Interims- und Zwischenlager an den Atomkraftwerksstandorten sind als Folge der Stromproduktionsgarantie notwendig. Der Druck, der während der bereits jetzt durchgeführten Genehmigungsverfahren auf die betroffenen Bürgerinnen und Bürger ausgeübt wird, soll durch das neue Gesetz noch nachträglich legitimiert werden. Das ist mit einem Verfassungsverständnis, das den Bürgern Rechtsschutzrechte sichert, nicht zu vereinbaren.

Schon 1994 anerkannte der Gesetzgeber, daß die Wiederaufarbeitung nicht in ein Konzept paßt, das vom Schutz vor den Gefahren ausgeht. Nun soll sie als Notlösung erlaubt werden, bis die Zwischenlager betriebsbereit sind.

Durch Geringhalten der Menge der endzulagernden Abfälle würde die Suche nach einem geeigneten Endlager erheblich erleichtert.

 

3. Das beabsichtigte Gesetz ist nicht verfassungsgemäß

Die Vereinbarung vom 14. Juni 2000 beruht auf einer Selbstverpflichtung der Industrie. Sie ist ein Vertrag zu Lasten Dritter und damit rechtswidrig.

Der von Verfassungs wegen geforderte Schutz vor den Gefahren der Kernenergie ist nicht Zweck des beabsichtigten Gesetzes. Dies kommt auch in seinem Titel zum Ausdruck.

Wenn der Gesetzgeber dieses Gesetz beschließt, verfährt er weder plausibel, denn statt den Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit auf Grund des neuesten Erkenntnisstandes zu verbessern, verhindert er seine Durchsetzung, noch handelt er willkürfrei, denn er sichert einseitig die wirtschaftlichen Interessen der Atomwirtschaft durch Abweisung der Schutzinteressen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger.

Der § 7 Abs. 2 Satz 3 wird seiner dynamischen Schutzwirkung für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit vollständig entkleidet. Damit ist trotz der Beibehaltung seines Wortlauts das beabsichtigte neue Gesetz verfassungswidrig.

Korrekturen an den übrigen vorgeschlagenen Regelungen vermögen das Grundkonzept des beabsichtigten neuen Gesetzes nicht zu ändern.

 

Für den BBU Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e.V.Bonn,

Eduard Bernhard, Vorstandsmitglied, Dr. Ing. Anna Masuch