Stellungnahme
für den BBU Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz
e.V.
zur öffentlichen
Anhörung des Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
am 5. November
2001 in Berlin zum Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN:
Entwurf eines Gesetzes zur geordneten
Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von
Elektrizität
Der BBU wurde auf der Anhörung
von Prof. Dr. Ing. Anna Masuch vertreten.
Einleitung
Der BBU Bundesverband Bürgerinitiativen
Umweltschutz e.V. ist auf Vorschlag der Bundestagsfraktion der PDS
vom Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Christoph Matschie, als Sachverständiger
eingeladen worden.
Alle eingeladenen Sachverständigen
wurden darum gebeten, auf die Fragen einzugehen, die die Fraktionen
des Bundestages in einem Katalog zusammengestellt haben, soweit
sie sich thematisch zuständig fühlen.
Aus der Sicht des BBU ist es
nicht möglich, einzelne Fragen dieses Katalogs zu beantworten,
ehe nicht vorher einige grundsätzliche Probleme, die der Gesetzentwurf
aufwirft, behandelt sind. Dies erhält besonderes Gewicht durch
die erst kürzlich durch die Vorgänge im Atomkraftwerk
Philippsburg 2 bekannt gewordenen Probleme. Da die vorgeschlagene
Tagesordnung für die Anhörung dafür nur knappe Zeit
läßt, benutze ich die Gelegenheit, die mir die erbetene
Stellungnahme bietet, um zuerst ausführlicher auf diese Probleme
einzugehen. Erst danach werde ich versuchen, einzelne der im Katalog
gestellten Fragen zu beantworten.
1.
Erwartungen der den Gesetzentwurf einreichenden Bundestagsfraktionen
Die Erwartungen, die die Bundestagsfraktionen
von SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN mit dem von ihnen vorgelegten
Gesetzentwurf verbinden, lassen sich auf folgende Weise zusammenfassen.
Sie gehen aus von der Auffassung,
daß seit dem Beschluß des Gesetzgebers 1959 das Atomgesetz
auf die Förderung der Kernenergie zielt. Aus der Tatsache,
daß die Genehmigungen der Atomkraftwerke nicht mit einer Befristung
ausgesprochen wurden, sei auf eine bestehende Bestandsgarantie der
Betreiber zu schließen, die erst jetzt durch eine Inhalts-
und Schrankenbestimmung nach Artikel 14 GG am Eigentumsrecht an
Atomkraftwerken eingeschränkt werde. Das Grundrecht der Bürgerinnen
und Bürger auf Leben und körperliche Unversehrtheit werde
durch die Novelle nicht mißachtet. Ein Restrisiko, das bisher
als tragbar hingenommen worden sei, sei für einen begrenzten
Zeitraum noch tolerabel. Wenn die Betreiber in Zukunft durch Gesetz
verpflichtet würden, alle zehn Jahre periodische Sicherheitsüberprüfungen
nach einer bestimmten Form vorzunehmen, dann könne dies die
Sicherheitssituation nur verbessern.
Aus diesen Gründen werde
der Gesetzesentwurf, der auf der Vereinbarung zwischen Bundesregierung
und den Atomkonzernen vom 11. Juni 2001 basiert, in den beiden rot-grünen
Koalitionsparteien als Fortschritt gesehen. Als hilfreich begrüßt
werden konkrete Hinweise zur Verbesserung des vorgelegten Entwurfs.
Aber eine Ablehnung des Entwurfs und damit ein grundsätzliches
Verwerfen des eingeschlagenen Weges für den Atomausstieg kommen
für sie nicht infrage. Eine Ablehnung habe zur Folge, dass
das alte Atomgesetz mit seiner Zielsetzung des Förderzwecks
der Atomenergie weiterhin Bestand hätte und ein Ausstieg in
noch weitere ungewisse Zukunft verschoben wäre.
An diese Auffassungen ist die
Frage zu richten, ob sie von richtigen Voraussetzungen hinsichtlich
der Zwecksetzung und der Schutzwirkung des noch geltenden Atomgesetzes
ausgehen, ob also ihre Vermutung, es werde ein Fortschritt erreicht,
zutrifft.
Bei der Beurteilung, ob ein
Gesetz den Forderungen der Verfassung genügt, müssen alle
vom Grundgesetz anerkannten und verbürgten Grundrechte berücksichtigt
werden. Einer der Eckpfeiler unserer Verfassung ist die Garantie
des Vorrangs des Schutzes von Menschenwürde und Leib und Leben
vor dem Grundrecht auf Eigentum.
Will der Gesetzgeber ein neues
Gesetz schaffen, dann muß er dabei willkürfrei verfahren
durch Berücksichtigung der Rangzuordnung der Grundrechte. Und
er muß plausibel handeln durch Verbesserung des Grundrechtsschutzes.
Er handelt daher nur dann richtig, wenn er sich selbst mit den einschlägigen
Probleme auseinandersetzt. Im vorliegenden Fall muß er sich
mit der verfassungsgerichtlichen Auffassung von Schutzzweck und
Schutzziel des existierenden Atomgesetzes und mit den durch den
Stand von Wissenschaft und Technik festgestellten Gefahren der Nutzung
der Atomenergie zur Stromproduktion unterrichten. Ob dies bisher
im ausreichenden Maße geschehen ist, wird sich aus den folgenden
Darlegungen ergeben.
2. Die bisherige
Rechtslage als Voraussetzung für die Bewertung des Gesetzentwurfs
-Beurteilungsmaßstab: Kalkar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
von 1978
Seit 1959 zielt das Atomgesetz
nicht nur auf die Förderung der Kernenergie, sondern gerade
auch auf den Schutz gegen ihre Gefahren. Den Garantien der Verfassung
entsprechend hat der Schutzzweck des Gesetzes Vorrang vor dem Förderzweck,
daher auch vor der Eigentumsnutzung. Wichtigster Grundsatz des geltenden
Atomgesetzes ist die Unabdingbarkeit größtmöglichen
Schutzes für Leben und körperliche Unversehrtheit vor
den Gefahren der Kernenergie. Das Bundesverfassungsgericht präzisierte
dies in der Kalkar-Entscheidung von 1978 in einer ausführlichen
Begründung. Aus dieser Begründung referiere ich hier:
Die normative Grundsatzentscheidung
für oder gegen die rechtliche Zulässigkeit der friedlichen
Nutzung der Kernenergie hat weitreichende Auswirkungen auf den Freiheits-
und Gleichheitsbereich der Bürger, das heißt: auf ihre
in der Verfassung garantierten Schutzrechte, und auf die allgemeinen
Lebensverhältnisse. Deshalb ist allein der Gesetzgeber berufen
sie zu treffen.
Das Bundesverfassungsgericht
erklärte das geltende Atomgesetz für verfassungsgemäß
aus folgenden Gründen:
Als der Gesetzgeber 1959 in
§ 1 Atomgesetz die Grundentscheidung für die Nutzung der Atomenergie
traf, hat er im Blick auf die Unabdingbarkeit größtmöglichen
Schutzes vor den Gefahren der Kernenergie durch Gesetz die Grenzen
der Nutzung bestimmt. Er nahm also zugleich eine Inhalts- und Schrankenbestimmung
gegenüber dem Eigentumsrecht der Betreiber von Atomkraftwerken
vor.
Innerhalb dieses Rahmens ist
§ 7 Abs. 2 Nr. 3 das maßgebliche Instrument für die Durchsetzung
des Schutzzwecks; er fordert: Die Genehmigung darf nur erteilt werden,
wenn "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche
Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb
der Anlage getroffen ist". Er schließt die Genehmigung dann
aus, wenn die Errichtung oder der Betrieb der Anlage zu Schäden
führt, die sich im Lichte des Grundrechts auf Schutz von Leib
und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1) oder anderer Grundrechte als Grundrechtsverletzungen
darstellen. Diese Vorschrift ist in die Zukunft hin offen, denn
der Grundrechtsschutz muß dynamisch sein, er muß schritthalten
mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Der Dynamik des Schutzzwecks
des Gesetzes genügt nur eine laufende Anpassung der für
die Beurteilung eines konkreten Risikos maßgeblichen Umstände
an den jeweils neuesten Erkenntnisstand. Dabei hat die Exekutive
alle wissenschaftlich und technisch vertretbaren Erkenntnisse heranzuziehen
und willkürfrei zu verfahren. Muß nach der Erteilung
der Genehmigung auf Grund von wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnissen
anerkannt werden, daß es keine technischen Vorkehrungen zur
Eindämmung von zu erwartenden Schäden gibt, schließt
die Genehmigung den weiteren Betrieb der Anlage aus.
Nur Ungewißheiten, die
nicht durch allgemein anerkannte Erkenntnisverfahren geklärt
worden sind und insofern jenseits der Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens
liegen, sind "unentrinnbar und insofern als sozial-adäquate
Lasten von allen Bürgern zu tragen." Ein bekanntes Risiko toleriert
das Bundesverfassungsgericht nicht.
Die gesetzliche Fixierung eines
bestimmten Sicherheitsstandards würde die der technischen Weiterentwicklung
jeweils angemessene Sicherung der Grundrechte eher hemmen als fördern.
Sie wäre ein Rückschritt auf Kosten der Sicherheit.
Es entspricht den Schutzforderungen
der Verfassung, daß sich die Atomkraftwerksbetreiber die sich
aus diesen Regelungen ergebende Rechtsunsicherheit, mit der eine
Beschränkung der Eigentumsnutzung z.B. durch die Einschränkung
der Planungssicherheit einhergeht, zumuten lassen müssen.
Damals wurde bereits darüber
nachgedacht, ob eines Tages zum Schutz vor Terrorismus Überwachungs-
und Sicherungsvorkehrungen für erforderlich gehalten werden
könnten, die mit dem gegenwärtigen Verständnis der
freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfassungsordnung des Grundgesetzes
unvereinbar sind. Das Bundesverfassungsgericht wies ausdrücklich
darauf hin, dass die Vorschriften des Atomgesetzes zu solchen Maßnahmen
nicht ermächtigen. Das noch geltende Atomrecht schließt
also die Einführung von "Polizei- und Überwachungsstaat"
wegen Gefährdung durch Terroristen und zu deren Abwehr ausdrücklich
aus.
Sieht sich der Gesetzgeber zu
einer neuen Entscheidung veranlaßt, muß er von Verfassungs
wegen die Überprüfung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse
über die Gefahren der Kernenergie in seine Entscheidung einbeziehen.
Er muß sich dabei an den Verfassungsgarantien zum Schutz des
Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit orientieren.
Soweit die Feststellungen des
Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des
Atomgesetzes von 1959.
3.
Das geltende Atomgesetz als Handhabe zur Stilllegung eines Atomkraftwerks:
Das Beispiel Mülheim-Kärlich
In der Öffentlichkeit gilt
der jahrzehntelange zähe gerichtliche Streit um das Atomkraftwerk
Mülheim-Kärlich bis zu seiner Stilllegung als ein Beleg
dafür, daß es grundsätzlich schwierig sei, mit Berufung
auf das jetzige Atomgesetz auf dem Gerichtsweg die Stilllegung eines
Atomkraftwerks zu erreichen. Ein Blick auf die Tatsachen läßt
erkennen, daß das Verfahren sich gerade deshalb so sehr in
die Länge zog, weil die Genehmigungsbehörde nicht rechtzeitig
ihrer Verpflichtung nachgekommen ist, die Einhaltung des Standes
von Wissenschaft und Technik durchzusetzen, dies insbesondere, wenn
Kernschmelzunfälle nicht sicher zu verhindern sind.
In diesem Fall waren die Auseinandersetzungen
um den Stand von Wissenschaft und Technik wesentlich mitbestimmt
durch das Zunehmen der Erkenntnisse über die Erdbebengefährdung
am Standort des Atomkraftwerks im Neuwieder Becken. Daneben spielte
auch eine Rolle, daß die Konstruktion der Anlage in Hinsicht
auf die Störfallbeherrschung auf einem Konzept beruhte, das
die Firma Babcock & Wilcox in den USA entwickelt hatte, und
das schon zur Zeit ihrer Errichtung nicht mehr dem technischen Niveau
entsprach, das mit den neueren von der KWU errichteten Anlagen bezeichnet
wurde. Es wurde auch erkennbar, daß Abhilfe zur Behebung der
Probleme in beiden Bereichen durch technische Mittel nicht zu erreichen
ist.
Weil sich die Kläger auf
den Nachweis berufen konnten, daß Kernschmelzunfälle
nicht sicher ausgeschlossen werden können, weil die erforderliche
Beherrschung von Störfällen beim Auftreten von Erdbeben
nicht gegeben ist, wurde durch Gerichtsbeschluß dem Betreiber
RWE die Erste Teilerrichtungsgenehmigung für das Atomkraftwerk
entzogen. Diese gerichtliche Entscheidung mußte nicht nur
gegen den Betreiber, sondern auch gegen die Genehmigungsbehörde
durchgesetzt werden. Da die Genehmigungsbehörde die ihr zur
Verfügung stehenden Erkenntnisse nicht umsetzte, verhielt sie
sich schuldhaft und wurde aus diesem Grunde durch Gerichtsurteil
teilweise haftbar gemacht für den Schaden, der dem Betreiber
aus ihrem fehlerhaften Verhalten entstand.
Mülheim-Kärlich lehrt:
Das Atomgesetz fordert, daß das Eintreten einer Kernschmelze
sicher verhindert werden muß. Ist es unmöglich, dies
durch technische Mittel zu erreichen, ist die Genehmigung ungültig,
die Anlage stillzulegen, der Weiterbetrieb der Anlage also illegal.
4. Weiterentwicklung
der wissenschaftlichen Erkenntnisse: Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke
DRS
Der Gesetzgeber hat anhand der
neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu prüfen, ob es durch
die weitere Nutzung der Atomenergie zu Schäden kommen kann,
die sich als Grundrechtsverletzungen darstellen. Grundlage dafür
ist heute die Deutsche Risikostudie Kernkraftwerke DRS Phase B.
Zur Zeit der Kalkar-Entscheidung
galten das Eintreten von Unfallabläufen mit Kernschmelze als
wissenschaftlich nicht erwiesen, weil man die Atomkraftwerke durch
die Systeme zur Störfallbeherrschung für ausreichend gesichert
hielt. Durch Kernschmelzunfälle verursachte Schäden wurden
bei der Genehmigung von Atomkraftwerken nicht berücksichtigt.
Mit der vom Bundestag in Auftrag
gegebenen Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke DRS sollte untersucht
werden, ob es in den deutschen Atomkraftwerken doch zu Kernschmelzunfällen
kommen kann und welche Schadensfolgen sie haben würden.
Schon mit der Veröffentlichung
des ersten noch vorläufigen Teils der DRS 1979 (DRS-A) mußte
bestätigt werden, daß es auch in deutschen Atomkraftwerken
zu Unfallabläufen mit Kernschmelze kommen kann. Man erklärte
die Ergebnisse für vorläufig. Die Arbeiten an der Studie
wurden fortgesetzt.
Die Phase B der Deutschen Risikostudie
Kernkraftwerke (DRS-B) wurde 1989 veröffentlicht.
Der lange Zeit wenig beachtete
Kernschmelzunfall bei hohem Druck im Primärkreis (HD-Kernschmelzen)
mußte nun beachtet werden. Tritt das Kernschmelzen infolge
eines kleinen Lecks im Primärkühlkreislauf oder des Ausfalls
der Kühlung ein, bleibt der Druck im Primärkreis hoch.
Im Augenblick, wenn der Boden des Reaktordruckbehälters durchschmilzt,
wird so viel Energie frei, daß der obere Teil des Reaktordruckbehälters
raketenartig nach oben schießt und den Sicherheitsbehälter
zerstört. Sofort werden sehr große Mengen radioaktiver
Stoffe in die Umwelt freigesetzt. Es kommt zu zahlreichen Erkrankungen
mit Todesfolge. Die Bewohner eines Gebiets zwischen 10 000 km² bis
über 100 000 km² müssen nicht nur zeitweilig evakuiert,
sondern dauerhaft umgesiedelt werden. Dies sind sehr weitreichende
Auswirkungen auf die in der Verfassung garantierten Schutzrechte
der Bürgerinnen und Bürger und auf die allgemeinen Lebensverhältnisse.
Technische Abhilfe gegen das raketenartige Durchbrechen des Reaktordruckbehälters
beim HD-Kernschmelzen ist nicht möglich, da der Sicherheitsbehälter
der derzeit betriebenen Atomkraftwerke nicht verstärkt werden
kann.
Diese Erkenntnisse hätten
unmittelbar nach ihrem Bekanntwerden die sofortige Stilllegung aller
Atomkraftwerke zur Folge haben müssen.
Als Ausweg aus dieser Situation
wurden in der DRS-B die sogenannten "Accident-Management"-Maßnahmen
oder anlageninternen Notfallmaßnahmen diskutiert. Darunter
werden von der normalen Betriebsweise abweichende Prozeduren verstanden,
die unter anderm die Häufigkeit von Kernschmelzen verringern
sollen; sie gehen immer auf Handeingriffe des Bedienungspersonals
zurück. Dazu gehören Maßnahmen zur Druckentlastung
des Primärkreislaufs, die im normalen Betrieb und bei Auslegungsstörfällen
auf keinen Fall durchgeführt werden dürfen, z.B. das Öffnen
von Druckhalterventilen im Primärkreis, das ergänzt werden
muß durch Kühlmitteleinspeisung über die Notkühlsysteme.
Sie werden unter dem Begriff "Bleed-and-Feed"-Maßnahmen zusammengefaßt.
Für die Durchführung
dieser Maßnahmen stehen nur begrenzte Zeitfenster zur Verfügung,
die bereits beginnen mit dem Eintreten der auslösenden Störung,
z.B. dem Auftreten eines Risses und Kühlmittelverlusten. Zuerst
muß aber versucht werden, den Störfall mit den dafür
vorgesehenen Sicherseitssystemen zu beherrschen. Erst wenn das nicht
gelingt, sind die Einsatzbedingungen für "Accident-Management"-Maßnahmen
gegeben. Die Zeitfenster für Maßnahmen zur Druckentlastung
über das Öffnen der Druckentlastungsventile des Primärkreislaufs
enden zwischen 60 und 135 min.
"Accident-Management"-Maßnahmen
erfordern daher eine genaue Kenntnis des Anlagenzustandes , die
nicht vorausgesetzt werden kann. Zunächst muß möglichst
zu Beginn des Zeitfensters der jeweilige Störfall durch das
Betriebspersonal genau identifiziert werden. Charakteristisch für
diese Situation ist, daß die Entscheidungsträger zu Beginn
das 5. Anerkennung der DRS-B und Reaktion der damaligen Bundesregierungvolle
Ausmaß der Probleme noch nicht kennen. Der Störfall entwickelt
sich mit fortschreitender Zeit, und die notwendigen Entscheidungen
müssen Schritt für Schritt getroffen werden. Unter diesen
Bedingungen muß davon ausgegangen werden, daß die "Accident-Management"-Maßnahmen
in vielen Fällen versagen, so daß es doch noch zum Hochdruck-Kernschmelzen
und zum Versagen des Sicherheitsbehälters mit der Freisetzung
großer Radioaktivitätsmengen kommt.
"Accident-Management"-Maßnahmen
oder anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen können den
erforderlichen Schutz vor Kernschmelzen nicht sicher erreichen.
5. Anerkennung
der DRS-B und Reaktion der damaligen Bundesregierung
Die Erkenntnisse aus der DRS-B
sind unstreitig. Sie waren so gravierend, daß Bundesregierung
und Gesetzgeber reagieren mußten. Der Gesetzgeber hat sie
1994 anerkannt. Mit dem neuen § 7 Abs. 2a Satz 1 AtG schrieb er
für zukünftig zu bauende Reaktoren vor: Vorsorgemaßnahmen
gegen Kernschmelzunfälle müssen so beschaffen sein, daß
es nicht zu Freisetzungen kommt, die zum Schutz vor den zu erwartenden
Schäden einschneidende Maßnahmen wie eine zeitweilige
Evakuierung erforderlich machen.
Bei den derzeit betriebenen
Atomkraftwerken ist beim Eintreten eines Kernschmelzunfalls die
weit tiefer einschneidende dauerhafte Umsiedlung erforderlich. Die
Anwendung dieser Erkenntnis auf die in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke
hätte das sofortige Erlöschen der Genehmigungen zur Folge
gehabt. Die damalige Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP verhinderte
dies, indem sie im zweiten Satz des § 7 Abs. 2a diesen Anlagen Bestandsschutz
zusicherte.
Dies reichte ihr aber zur Absicherung
der Betreiberinteressen nicht aus. In den § 7 Abs. Satz 1 wurde
ein Passus eingefügt, mit dem die Kernschmelzereignisse zu
"Risiken für die Allgemeinheit" erklärt wurden, mit der
beabsichtigten Folge, daß diese Ereignisse dem Drittschutz
entzogen wurden. Von Bürgerinnen und Bürgern beklagbar
ist seitdem nur der Bereich der Störfallbeherrschung, die Auswirkungen
von Kernschmelzen sind es trotz ihrer weitreichenden Auswirkungen
auf die Schutz- und Freiheitsrechte nicht.
Trotz der 1994 gesetzlich festgeschriebenen
Bestandsgarantie für die derzeit betriebenen Atomkraftwerke
enthält das geltende Atomgesetz aber auch weiterhin die Bestimmung
des § 7 Abs. 2 Nr. 3, nach der der Grundrechtsschutz entsprechend
dem Stand von Wissenschaft und Technik sichergestellt sein muß.
Um sich den Anforderungen aus
§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG zu entziehen, haben sich die damalige Bundesregierung,
die zuständigen Landesbehörden und die damalige Reaktorsicherheitskommission
in nichtöffentlichen Vereinbarungen darauf verständigt,
als ausreichender Schutz gegen das Eintreten von Kernschmelzunfällen
mit frühzeitiger Zerstörung des Sicherheitsbehälters
könnten die "Accident-Management"-Maßnahmen oder anlageninternen
Notfallmaßnahmen akzeptiert werden. Da der Schutzzweck des
Atomgesetzes mit ihnen nicht realisiert werden kann, erklärte
man vor der Öffentlichkeit, die Kernschmelzereignisse seien
im Bereich des "Restrisikos, das als tragbar hingenommen werden
müsse", anzusiedeln. Beide Vorgehensweisen sind durch die Vorschriften
des Atomgesetzes nicht gedeckt.
Damit die anlageninternen Notfallmaßnahmen
überhaupt nur einige Aussicht auf Erfolg haben konnten, mußten
bei allen Anlagen Umbauten und Änderungen in der Betriebsorganisation
vorgenommen werden. Um die "Bleed-and-Feed"-Maßnahmen zu ermöglichen,
wurde ein Umbau der Druckhalterventile erforderlich. Zur Beschreibung
der vorgesehenen Maßnahmen mußte ein Notfallhandbuch
erstellt werden, Änderungen im Betriebshandbuch waren die Folge.
Inzwischen haben die zuständigen Behörden diese Änderungen
bei allen Atomkraftwerken genehmigt, die Veränderungen wurden
ausgeführt.
Leicht nachzuvollziehen ist,
daß die öffentliche Erörterung dieser Problematik
aus vielerlei Gründen gefürchtet wurde. Was vor Gericht
verhandelt wird, erreicht auch die Öffentlichkeit. Um das zu
verhindern erwies sich der Ausschluß des Drittschutzes aus
der gerichtlichen Auseinandersetzung durch die Definition der Kernschmelzereignisse
als "Risiken für die Allgemeinheit" als ein wirksames Mittel.
Die Diskussion der Erkenntnisse der DRS-B wurde erfolgreich aus
der öffentlichen Auseinandersetzung verdrängt.
Nichtsdestoweniger blieben die
Anforderungen aufgrund des Schutzzwecks im Gesetz erhalten. Die
Exekutive ist daher immer noch in der Lage, sich gegen die nichtöffentlichen
Vereinbarungen und für die Durchsetzung des Schutzzwecks des
Gesetzes zu entscheiden.
6.
Der Schutzzweck des geltenden Atomgesetzes und das Beispiel Philippsburg
2
Die jüngsten Ereignisse
haben endlich die Tatsache wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit
gerückt, daß es in den deutschen Atomkraftwerken zu Kernschmelzunfällen
mit schwerwiegenden Folgen kommen kann. Dazu hat zwar auch die Auseinandersetzung
mit der Bedrohung durch Terrorismus beigetragen. Wie notwendig die
Umsetzung des heutigen Standes von Wissenschaft und Technik mit
Hilfe des geltenden Atomgesetzes ist, zeigen die neuen Erkenntnisse,
die sich aus den seit dem 7. Oktober 2001 bekanntwerdenden Vorgängen
im Atomkraftwerk Philippsburg 2 ergeben.
Ich halte es gerade in Hinblick
auf die geplanten Gesetzesänderungen für notwendig, diesen
Vorgänge besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich fasse die
wichtigsten Informationen kurz zusammen:
Als das Bundesumweltministerium
am 4. Oktober 2001 erste Informationen über das Fehlverhalten
der Betriebsmannschaft erhalten hatte, bestellte es umgehend am
Sonnabend, dem 6. Oktober, den für die Aufsicht zuständigen
Landesminister von Baden-Württemberg Ulrich Müller ein.
Es zwang ihn zuzugeben, daß dem Betreiber der Anlage fachliches
Versagen und mangelnde Zuverlässigkeit vorgeworfen werden muß.
Am Tag darauf lud das BMU die Betreibergesellschaft EnBW selbst
vor. Nach der Drohung mit der Stilllegung des Atomkraftwerks durch
aufsichtsbehördlicheVerfügung stimmte EnBW zu, den Reaktor
bis zur Klärung der Störfallursachen von sich aus herunterzufahren
und bis zur abschließenden Beratung über weitere Sicherheitskonsequenzen
stillzulegen.
Die Betriebsmannschaft hatte
erst zwei Wochen nach dem Wiederanfahren der Anlage festgestellt,
daß in drei von vier Notkühlbecken der erforderliche
Borzusatz fehlte. Spätestens von diesem Zeitpunkt an hätte
sie selbst die Anlage stilllegen müssen, weil eine wesentliche
Sicherheitsfunktion nicht erfüllt war und um die Ursache dieses
schwerwiegenden Fehlers zu ermitteln. Sie meldete dieses Ereignis
jedoch erst, nachdem sie bei laufendem Betrieb den Borzusatz in
den drei Notkühlsystemen ergänzt hatte. Die schriftliche
Meldung fand am 31. August statt. Die Landesbehörde, die nun
hätte einschreiten müssen, verließ sich über
Wochen hinweg auf die Einschätzung des Betreibers, ehe das
BMU sie vorlud.
Danach folgten die Beurlaubung
des verantwortlichen Leiters des Atomkraftwerks und die Rücktritte
zweier Vorstandsmitglieder. Anstelle der bisherigen Gutachter wurden
andere mit den erforderlichen Untersuchungen beauftragt. Am 23.
Oktober mußte EnBW zugeben, daß seit 17 Jahren mit voller
Absicht die Vorschriften des Betriebshandbuchs mißachtet wurden.
Am 24. Oktober ging der Bundesumweltminister einen beträchtlichen
Schritt weiter. Er forderte die zuständigen Aufsichtsbehörden
der Länder auf, das Sicherheitsmanagement aller deutschen Reaktoren
zu prüfen. Es muß also durchgehend ein vergleichbares
fehlerhaftes Verhalten vermutet werden. Am 26. 10. 2001 meldete
die Presse, daß die Staatsanwaltschaft Karlsruhe Ermittlungen
gegen die Führungsebene des Atomkraftwerks und der Miteigentümerin
EnBW eingeleitet hat. Sie wird überprüfen, ob die Verantwortlichen
die Anlage unerlaubt betrieben und sich damit strafbar gemacht haben.
An dieser Stelle der Überlegungen
halte ich es für sinnvoll, etwas tiefer auf die Details einzugehen.
Die Grundlage für die Ermittlungen bilden § 7 Abs. 2 Nr.1,
Nr.2 und Nr. 3 in Verbindung mit den Ermächtigungsvorschriften
des § 12 und den Vorschriften für die staatliche Aufsicht des
§ 19 des geltenden Atomgesetzes.
§ 7 Abs. 2 Nr.1 bezieht sich
auf die Aufsichtspflichten des Führungspersonals des Unternehmens
und der Betriebsleitung. In § 7 Abs. 2 Nr. 2 geht es um die Beschäftigten
in der Anlage selbst, zu denen auch die Schichtleiter gehören.
Zu der notwendigen hohen fachlichen Qualifikation dieser Ingenieure
muß gehören, daß sie selbständig beurteilen
können, ob mit den anzuwendenden Schutzmaßnahmen die
erforderliche Vorsorge gegen Schäden durch den Betrieb der
Anlage getroffen ist. § 7 Abs. 2 Nr. 3 umreißt (bekanntlich)
die Schutzpflichten aller dieser Personen.
Um die Beziehung zwischen §
7 Abs. 2 Nr.2 und Nr. 3 darstellen zu können, zitiere ich hier
beide: Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn (nach Nr. 2)
"gewährleistet ist, daß die bei dem Betrieb der Anlage
sonst tätigen Personen die notwendigen Kenntnisse über
einen sicheren Betrieb der Anlage, die möglichen Gefahren und
die anzuwendenden Schutzmaßnahmen besitzen" und (nach Nr.
3) "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche
Vorsorge gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb
der Anlage getroffen ist".
Aus diesen Anforderungen des
Gesetzes ergeben sich nicht nur Fragen zur Verantwortlichkeit der
beteiligten Personen, sondern darüber hinaus auch konkrete
Fragen in Hinsicht auf die technischen Probleme, die mit den Notkühlsystemen
verbunden sind. Diese Fragen haben sich über mehrere Ebenen
zu erstrecken. Sie sind alle gekennzeichnet durch die gleiche Richtung
dieser Fragen: Was geschieht dann, wenn ein System oder eine Handlung
versagen? Auch diese Fragen müssen einer gutachterlichen Klärung
unterzogen werden. Dazu bedarf es sicherlich zum Teil umfangreicher
Berechnungen. Einige wenige Fragen können aber auch jetzt schon
durch einfache aus bereits vorhandenen Informationen abgeleitete
Überlegungen beantwortet werden.
Diese Fragen haben unmittelbar
Auswirkungen auf die Frage, ob die Betriebsmannschaft die notwendigen
Kenntnisse über die möglichen Gefahren und die anzuwendenden
Schutzmaßnahmen besitzt. Die notwendigen Kenntnisse sind wiederum
durch § 7 Abs. 3 Nr. 3 definiert, ob die nach dem Stand von Wissenschaft
und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden getroffen
ist. Bei der hohen Qualifikation, die man bei den als Schichtleiter
tätigen Ingenieuren voraussetzen kann, muß man annehmen,
daß sie vom Stand von Wissenschaft und Technik über die
Versagensmöglichkeiten der anlageninternen Notfallmaßnahmen
unterrichtet sind.
Haben die Notkühlsysteme
eine Funktion im Normalbetrieb? Und wie würde sich in diesem
Bereich das Fehlen des Borzusatzes auswirken?
Im Normalbetrieb wird dem Kühlmittel
im Primärkreis Bor zugesetzt, um durch Verstetigung des Neutronenflusses
zwischen den Brennstäben die Kritikalität des Reaktors
besser steuern zu können; dies dient der Verringerung der mechanischen
Belastung der Turbine durch den Ausgleich der sonst auftretenden
Schwankungen in der Wärmeleistung des Reaktors. Bei Leckstörfällen
wird die Schnellabschaltung ausgelöst, deren Steuerstäbe
ebenfalls Bor enthalten, um den Neutronenfluß abzubrechen.
Zum Ausgleich des Kühlmittelverlusts wird aus den Notkühlbehältern
Kühlmittel angesaugt. Fehlt dann der Borzusatz, wirkt sich
das aus wie Ziehen der Abschaltstäbe, es kommt zu Rekritikalität,
das heißt: der Neutronenfluß steigt wieder an, mit ihm
auch die Wärmeproduktion. Die Abschaltung funktioniert nicht
richtig. Wenn unter diesen Umständen die Wärmeabfuhr aus
dem Primärkreis versagt, kann es zum Kernschmelzen kommen.
Diesen Vorgang hat das BMU als "Benzin ins Feuer gießen" bezeichnet.
Haben die Notkühlsysteme
eine Funktion im Zusammenhang mit den anlageninternen Notfallschutzmaßnahmen,
mit denen verhindert werden soll, daß es zu einer Kernschmelze
kommt? Und wie würde sich in diesem Bereich das Fehlen des
Borzusatzes auswirken?
Den Notkühlsystemen kommt
bei den "Bleed-and-Feed"-Maßnahmen eine wichtige Funktion
beim Zurverfügungstellen von Kühlmittel zu. Wenn die Betriebsmannschaft
sich zu diesen Maßnahmen entschließt, weiß die
Betriebsmannschaft, daß sie für ein erfolgreiches Handelns
nur wenig Zeit hat. Sie muß sich darauf verlassen können,
daß die Borkonzentration in den Notkühlbecken stimmt.
Wenn sie erst während des "Bleed-and-Feed" feststellt, daß
die Wärmeleistung des Reaktors nicht wie erwartet heruntergeht,
kann ihr sehr schnell aufgrund der notwendig werdenden Fehlersuche
und Neuorientierung die Zeit verloren gehen, in der ihr Handeln
noch Erfolg verspricht. Die anlageninternen Notfallmaßnahmen
können vollständig versagen. Dann kann das Kernschmelzen
nicht mehr aufgehalten werden.
Können die anlageninternen
Notfallschutzmaßnahmen auch erfolglos sein, wenn die Borkonzentration
der Notkühlsysteme stimmt? Wenn die Wärmeabfuhr über
den Sekundärkreis zusammenbricht, bleiben auch die "Bleed-and-Feed"-Maßnahmen
wirkungslos. Auch dann werden die anlageninternen Notfallmaßnahmen
vollständig versagen; Kernschmelzen kann nicht mehr aufgehalten
werden.
Es wird von keiner Seite bezweifelt,
daß dies ein Zustand ist, aus dem sich Gefahren für Leben,
Gesundheit oder Sachgüter ergeben können!
Sind diese Fragen nur auf das
Atomkraftwerk Philippsburg 2 zu beziehen? Nein, für alle deutschen
Atomkraftwerke kann dargestellt werden, daß es Versagensmöglichkeiten
der Systeme gibt, die die Kernschmelze verhindern sollen.
Nach dem oben genannten § 19
des geltenden Atomgesetzes ist die Aufsichtsbehörde frei anzuordnen,
daß ein Zustand beseitigt wird, aus dem sich durch die Wirkung
ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder
Sachgüter ergeben können, um den Schutzzweck des Gesetzes
verwirklichen zu können.
Bisher gehen alle vom BMU gewählten
Schritte zumindest in diese Richtung.
7.
Zur Beantwortung von Fragen aus dem für die Anhörung am
5.November
2001 vorgelegten Fragenkatalog
Der Gesetzentwurf soll hier
im Vergleich mit der jetzigen Rechtssituation analysiert werden
auf Willkürfreiheit und Plausibilität.
Gerade auch vor dem Hintergrund
der konkret vorliegenden Tatsachen im Zusammenhang mit den Vorgängen
im Atomkraftwerk Philippsburg sind die beabsichtigten neuen Regelungen
daran zu messen, ob sie gegenüber der Schutzwirkung des geltenden
Gesetzes eine Verbesserung des Rechtszustandes bringen.
Hier kann ich u.a. auch an die
Fragen anknüpfen, die von der PDS in den Fragenkatalog für
die Anhörung eingebracht worden sind. Diese werde ich jeweils
mit ihrer Ordnungsziffer zitieren. Zitate aus der Bundestags-Drucksache
14/6890 kennzeichne ich mit Seitennummer und Spalte.
PDS, Frage 1.: "Welchen Stellenwert
nimmt der Schutz von Leben und Gesundheit vor ionisierender Strahlung
in der neuen Zielstellung des Gesetzes gegenüber der bestehenden
Fassung ein?" Diese Frage ist den Grundsatzfragen zuzurechnen.
Die Frage zielt direkt auf Schutzzweck
und Schutzziel des noch geltenden Atomgesetzes. Der Schutzzweck
dieses Gesetzes ist in § 1 Abs. 2 formuliert. Zweck dieses Gesetzes
ist "Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie
und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen
und durch Kernenergie oder ionisierende Strahlen verursachte Schäden
auszugleichen". Das Schutzziel ist in § 7 Abs. 2 und hier insbesondere
in Satz 3 bestimmt: Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn
"die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge
gegen Schäden durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage
getroffen ist". Die verfassungsrechtliche Bedeutung dieser miteinander
eng verknüpften Regelungen habe ich oben dargestellt.
Die mit dem beabsichtigten Gesetz
verfolgten Zwecke werden in der Begründung definiert: (S. 14,
Sp. 1) "Das Gesetz verfolgt mit der zukünftigen Vermeidung
bzw. Minderung der mit der Kernenergienutzung verbundenen Risiken
überragend wichtige Belange des Gemeinwohls." Diese Aussage
enthält bereits zwei für die Beurteilung des Gesetzentwurfs
wichtige Festlegungen.
Es sollen - sichtlich in Hinsicht
auf den Betrieb der Atomkraftwerke - die mit der Kernenergienutzung
verbundenen Risiken erst "zukünftig vermieden" werden. In diesen
Zusammenhang gehört die Feststellung, (S. 14, Sp. 1), daß
"sich die Möglichkeit von Unfällen mit großen Freisetzungen
nicht völlig (ausschließen) läßt"; man kann
die Erkenntnisse aus der DRS-B nicht unbeachtet lassen. Das Eintreten
von Kernschmelzunfällen soll aber erst "zukünftig vermieden"
werden. Der vom geltenden Atomgesetz geforderte Grundrechtsschutz
soll also nicht schon dann wirksam werden, wenn es die Umsetzung
des Standes von Wissenschaft und Technik fordert, was längst
zur Stilllegung aller Atomkraftwerke hätte führen müssen,
sondern erst nach dem Ende der Stromproduktion durch die Nutzung
der Atomenergie, erst dann, wenn das letzte Atomkraftwerk vom Netz
geht. Dies ist bereits ein ganz massiver Eingriff in das Grundrecht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2, Satz
2 GG und eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem geltenden
Gesetz.
Die zweite Festlegung findet
sich in der Aussage, daß "überragend wichtige Belange
des Gemeinwohls" verfolgt werden sollen. Diese Formel hat trotz
des scheinbar so nachdrücklichen "überragend wichtig"
inhaltlich dieselbe Bedeutung wie die, mit der im bisherigen § 7
Abs. 2a Satz 1 die Kernschmelzereignisse zu "Risiken für die
Allgemeinheit" erklärt wurden. Sie betrifft gerade nicht den
Grundrechtsschutz des einzelnen Bürgers, sondern schließt
ihn juristisch sehr wirkungsvoll aus. Dieselbe Wirkung hat (S. 14,
Sp. 2) "Schutz der menschlichen Gesundheit und anderer Gemeinschaftsgüter",
denn der Gesundheitsschutz wird damit auf die gleiche Ebene unterhalb
des Grundrechtsschutzes gebracht wie irgendwelche anderen Gemeinschaftsgüter,
die grundsätzlich nicht als Grundrechte behandelt werden. Die
Parallele zu dem Vorgehen bei der Gesetzesänderung von 1994
ist deutlich. Dabei wirkt sich der Ausschluß des Grundrechts
hier nicht nur auf eine einzelne Bestimmung, sondern auf das ganze
beabsichtigte Gesetz aus. Da Grundrechte prinzipiell einen höheren
Rang haben als das Gemeinwohl oder Gemeinschaftsgüter , wird
nur durch diesen Ausschluß die Behauptung möglich, die
verfassungsrechtlichen Fragen in Hinsicht auf das beabsichtigte
Gesetz beträfen allein das Eigentumsgrundrecht der Betreiber.
Der Vorrang des Grundrechts auf Leib und Leben vor der Eigentumsnutzung
wird unterdrückt, die Verfassungsgarantie unwirksam. Erst mit
diesem die Verfassung mißachtenden juristisch-argumentativen
Trick wird es möglich, die Behauptung zu konstruieren, der
Bestandsschutz der Atomkraftwerke sei nicht bisher schon eingeschränkt
gewesen, sondern werde dies erst durch die neuen Regelungen. Hierin
eine Verbesserung gegenüber dem geltenden Gesetz sehen zu wollen
ist nicht möglich, denn es verstößt gegen grundlegende
Verfassungsprinzipien.
Als weiterer Gesetzeszweck wird
definiert: (S. 16, Sp. 1) "Der zweite, in § 1 Nr.1 neben dem Beendigungszweck
enthaltene neue Gesetzeszweck besteht darin, "bis zum Zeitpunkt
der Beendigung den geordneten Betrieb sicherzustellen." Darin kommt
laut Begründung der "verfassungsrechtlich gewährleistete
Bestandsschutz für Anlagen zum Ausdruck, die nach bisheriger
Rechtslage über unbefristete Genehmigungen verfügen."
Es muß schon erstaunen,
wie hier mit Hilfe einer Übereinkunft, die nur aufrecht zu
erhalten ist durch den oben beschriebenen argumentativen Trick,
in die "bisherige Rechtslage" umgebogen wird. Im noch geltenden
Atomrecht ist eine Befristung der Genehmigungen deshalb nicht vorgesehen,
weil eine feste Fristsetzung in Widerspruch steht mit der erforderlichen
Dynamik des Grundrechtsschutzes, dem die Durchsetzung des Schutzziels
durch Erlöschen der Genehmigung unter fest umschriebenen Bedingungen
weit besser entspricht.
PDS, Frage 2.: "Ist der Gesetzgeber
frei, Risiken für das Leben und Gesundheit der Bevölkerung
in Kauf zu nehmen oder müssen Grenzen beachtet werden?" Auch
diese Frage gehört zu den Grundsatzfragen.
Durch Risiken für Leben
und Gesundheit ist gerade im Atomrechtsbereich nicht bloß
der Schutz der Bevölkerung im Sinne von Allgemeinwohl, sondern
der Schutz des Grundrechts jedes einzelnen Bürgers berührt.
Das geltende Atomgesetz ist,
gemäß den Aussagen des Bundesverfassungsgericht in der
Kalkar-Entscheidung von 1978, allein deshalb verfassungsgemäß,
weil es dem Grundsatz der Unabdingbarkeit größtmöglichen
Schutzes für Leben und körperliche Unversehrtheit vor
den Gefahren der Kernenergie entspricht. Die Grenze des Grundrechtsschutzes
ist durch den Stand von Wissenschaft und Technik bestimmt. Wenn
in der Begründung behauptet wird, (S. 14, Sp. 1) es sei der
Gesetzgeber gewesen, der "das bei einem Unfall mögliche" -
bekannte - "Schadensausmaß" als sozialadäquat hinzunehmen
betrachtet habe, so lehrt der Blick in die Begründung der Kalkar-Entscheidung,
daß eine solche Auffassung entschieden verworfen werden muß.
Es muß auch nach dem Zusammenwirken
der einzelnen beabsichtigten Regelungen gefragt werden. Diese Fragen
können am besten dem Bereich "Laufender Betrieb und Sicherheit
der Kernkraftwerke" zugerechnet werden.
Ich beginne mit der Beziehung
zwischen dem Grundkonzept und dem Titel des beabsichtigten Gesetzes:
Der Titel des Entwurfs lautet: Entwurf eines Gesetzes zur geordneten
Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von
Elektrizität. Das noch geltende Atomgesetz hat den Titel: Gesetz
über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz
gegen ihre Gefahren (Atomgesetz). Der Schutzzweck ist also bereits
hier ausgesprochen. Warum fehlt im neuen Titel der Hinweis auf den
Schutz gegen die Gefahren der Kernenergie? Die Antwort ergibt sich
aus dem Zusammenwirken der Änderungen, in denen das Grundkonzept
der Vereinbarung vom 14. Juni 2000 umgesetzt ist.
Mit der Vereinbarung vom 14.
Juni 2000 zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft wurden der
Atomwirtschaft Stromproduktionsrechte zugesichert. Die vereinbarte
Reststrommengen-Regelung soll mit den neu in § 7 eingefügten
Absätzen 1a bis 1d umgesetzt werden. Sie enthalten Bestimmungen
zur Kontrolle der noch ermöglichten Stromproduktion in Höhe
von insgesamt 2.623,31 TWh, einschließlich einer Reststrommenge
für das illegal betriebene Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich
von 107,25 TWh. Im Rahmen dieser Regelungen haben die Betreiber
weitestgehende Entscheidungsfreiheit bei der Kapitalverwertung.
Jede vorzeitige Stilllegung
einer Anlage vor der Abarbeitung der für sie festgesetzten
Strommenge hat die Verschiebung der Stilllegung anderer Atomkraftwerke
in die Zukunft zur Folge. Die Genehmigung für das zuletzt noch
betriebene Atomkraftwerk erlischt erst dann, wenn nicht nur die
für diese Anlage festgelegte Reststrommenge, sondern auch die
Strommengen aus den den Betreibern zugestandenen Übertragungen
produziert sind.
Es gibt keine Fristsetzungen,
wie in der Öffentlichkeit immer wieder zu hören ist. Den
Hinweis, (S. 16, Sp. 1) "in der Summe" werde "dennoch die durchschnittliche
Regellaufzeit von 32 Jahren je Kernkraftwerk nicht überschritten",
kann man nur als bewußte Irreführung bezeichnen. An anderer
Stelle heißt es dazu in der Begründung: (S. 21, Sp. 2)
"Der Zeitpunkt der Beendigung der Kernenergienutzung in Deutschland
ergibt sich aus den dem BfS mitzuteilenden Informationen über
die produzierten Strommengen" und (S. 16, Sp. 1) "Der genaue Zeitpunkt
des Erlöschens der Berechtigung zum Leistungsbetrieb eines
Kernkraftwerkes brauchte zum jetzigen Zeitpunkt nicht starr festgelegt
zu werden." Das Eintreten eines Kernschmelzunfalls wird erst dann
ausgeschlossen, wenn der letzte Rest der garantierten Gesamtstrommenge
produziert ist. Die Atomwirtschaft hat weitgehend freie Hand, selbst
zu entscheiden, mit welcher Anlage wann die garantierte Strommenge
produziert werden soll.
Die Einbeziehung des Atomkraftwerks
Mülheim-Kärlich in die Reststrommengen-Regelung wird sowohl
in der Vereinbarung wie in der Begründung so dargestellt, als
ob RWE großzügigerweise auf einen neuen Genehmigungsantrag
verzichtet habe und dafür einen Ausgleich beanspruchen kann.
Tatsächlich bestand für RWE keine reale Aussicht, noch
eine Genehmigung zu bekommen, denn die Anlage würde nicht einmal
den Anforderungen genügen, die in den neuen Regelungen des
Gesetzentwurfs vorgesehen sind. Man darf an dieser Stelle daran
erinnern, daß im Interesse von RWE schon öffentlich über
Absprachen geredet wurde, wie man die Anwendung der geltenden Genehmigungsvoraussetzungen
umgehen könnte durch Beschränkung des Antrags auf bestimmte
Anlagenteile. Aus dem Antrag ausgeschlossen werden sollten die Teile,
die nicht einmal den heutigen Anforderungen an die Störfallbeherrschung
entsprechen. Man suchte also schon wieder nach Auswegen, um die
Anforderungen des geltenden Gesetzes zu umgehen.
Der tatsächliche Hintergrund
dürfte darin zu suchen sein, daß noch immer nicht die
Schadensersatzforderungen, die RWE aufgrund des gerichtlichen Stilllegungsbeschlusses
Gegenüber dem Land Rheinland-Pfalz geltend machen konnte, ausgeglichen
waren. Diese Schadensersatzverpflichtung ergab sich nicht aus der
Durchsetzung der Stilllegung als solcher, denn diese entsprach den
Anforderungen des Atomgesetzes. Hätte die Genehmigungsbehörde
selbst die Stilllegung der Anlage durchgesetzt, dann hätte
das Gericht ihr auch kein Mitverschulden an dem illegalen Betrieb
der Anlage angelastet.
Konkret würden sich die
Abmachungen zu Mülheim-Kärlich in der Reststrommengen-Regelung
so auswirken: Der beklagten RWE , der gerichtlich die Illegalität
des Betriebs der Anlage nachgewiesen wurde, würde eine geldwerte
Begünstigung in Gestalt von Produktionsrechten in der beträchtlichen
Höhe von etwa einem Drittel der zugrundegelegten Produktionsmengen
zugeschlagen, und die Genehmigungsbehörde, der vom Gericht
schwerwiegende Fehlentscheidungen nachgewiesen wurden, würde
ganz unbehelligt davonkommen. Das ist ein recht merkwürdiges
Verständnis von den konkreten Auswirkungen der Durchsetzung
von gesetzlichen Anforderungen durch Kläger und Gerichte! Bei
genauem Hinsehen erkennt man bei den Partnern der Vereinbarung ein
beachtliches Ausmaß an Willfährigkeit gegenüber
Betreiberinteressen und schuldhaft fehlerhaft handelnder Genehmigungsbehörde.
Am Beispiel Neckarwestheim 2
werden die Auswirkungen dieser Regelungen erkennbar: Dieses Atomkraftwerk
ging 1989 als letztes in Betrieb. Ginge man von einer fest begrenzten
Laufzeit von 32 Jahren aus, würde es noch bis 2021 betrieben.
Da Reststrommengen von vorzeitig stillgelegten Anlagen auf die jüngeren
Anlagen übertragen werden sollen, wird seine Betriebszeit erheblich
verlängert. Zusammen mit einem Teil der Reststrommenge von
Mülheim-Kärlich wird der Zeitpunkt des Erlöschens
der Betriebsgenehmigung für Neckarwestheim 2 um mehrere Jahre
in unbekannte Zeit hinausgeschoben. Entsprechendes gilt für
die Atomkraftwerke Emsland/Lingen und Isar 2.
Hier kann noch eine Frage der
PDS eingefügt werden.
PDS, Frage 15.: "Stellt das
Zugeständnis einer Produktionsgarantie für das AKW Mülheim-Kärlich
dahingehend einen Präzedenzfall dar, dass geldwerte Garantien
nicht mehr länger an das Vorliegen oder die Einhaltung einer
gültigen Genehmigung gebunden sein sollen?"
Die Einbeziehung von Mülheim-Kärlich
in die Reststrommengen-Regelung hat tatsächlich die Wirkung
eines Präzedenzfalls. Sollte vor Gericht die Stilllegung eines
Atomkraftwerks vor Abarbeitung der Reststrommenge erreicht werden,
so wird der beklagte Betreiber unter Berufung auf den Präzedenzfall
Mülheim-Kärlich geltend machen können, dass er die
noch nicht produzierte Strommenge auf andere Anlagen übertragen
kann. Das schlösse auch bei schuldhaftem Handeln der Eigentümer
der Atomkraftwerke eine wirksame Kürzung der geldwerten Produktionsrechte
aus. Durch das Bekanntwerden der Vorgänge im Atomkraftwerk
Philippsburg 2 erscheint der Charakter gerade dieser Regelung in
einem besonders unerfreulichen Licht.
Werden den Atomkraftwerksbetreibern
langdauernde Produktionsrechte garantiert, muß das Auswirkungen
haben auf die Dynamik des Schutzes von Leben und körperlicher
Unversehrtheit.
Durch die Einfügung des
neuen § 19a soll die schon unter der früheren Regierungskoalition
eingeführte Praxis der Periodischen Sicherheitsüberprüfungen
(PSÜ) im Gesetz fixiert werden.
Sorgfältig zu beachten
ist das Ziel, das mit der Periodischen Sicherheitsüberprüfung
erreicht werden soll. Es wird in der Begründung sehr widersprüchlich
dargestellt. Einerseits wird behauptet, (S. 17, Sp. 2) "Die Atomaufsicht
über die weiter betriebenen Anlagen" wird dadurch "im Sicherheitsinteresse
der Bevölkerung weiter effektiviert." Es wird der Anschein
erweckt, die Verpflichtung der Betreiber zur PSÜ könne
die Sicherheitssituation nur verbessern. Gleich daneben findet man
aber, daß (S. 17, Sp.2) "auch bei den jüngeren Anlagen
... die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus nach dem Stand
von Wissenschaft und Technik nach wie vor eine wichtige Aufgabe"
ist. Ergänzt wird diese Aussage durch (S. 14;Sp. 2), die Pflicht
zur PSÜ sei "insbesondere auch im Hinblick auf ältere
Anlagen bedeutsam." (S. 25, Sp. 2) "Satz 2 dieses Absatzes stellt
klar, dass die Berechtigung zum Leistunsgbetrieb zu dem Zeitpunkt
erlischt, den der Betreiber für die Beendigung des Leistungsbetriebs
verbindlich erklärt hat".
Da die PSÜ bereits seit
Jahren eingeführt ist, muß man die bisherige Praxis zur
Beurteilung der Wirkungsweise der Fixierung im Gesetz betrachten.
Die Aufgabe einer PSÜ ist
es, die Sicherheit einer Anlage zu vergleichen mit den neuesten
Anlagen, die derzeit in Betrieb sind. Beabsichtigt ist, die Sicherheit
der älteren Anlagen auf ein höheres Niveau zu bringen
als das, das der Auslegung ursprünglich zugrunde lag. Dabei
soll, soweit möglich, von den Betriebserfahrungen und den daraus
resultierenden Erkenntnissen Gebrauch gemacht werden, z.B. auch
in Hinsicht darauf, ob es in den Sicherheitssystemen noch Kapazitätsreserven
gibt. Es soll festgestellt werden, wo Änderungen in der Anlage
zu vertretbaren Kosten durchgeführt werden können. Die
PSÜ dient also im wesentlichen zum Umgang mit Sicherheitsdefiziten
bei Altanlagen. In den bisher verwendeten Leitfaden für die
PSÜ ist der Wissensstand über Kernschmelzereignisse nicht
einbezogen worden.
Die Partner der Vereinbarung
vom 11. Juni 2001 erwarten von der gesetzlichen Fixierung der PSÜ,
daß (S. 17, Sp. 2) die Regelung "geeignet und erforderlich
zur Risikoverminderung während der Restlaufzeiten" ist. Dies
bezieht sich nicht auf die Risiken, denen die Bürgerinnen und
Bürger durch die Fortsetzung des Betriebs der Atomkraftwerke
ausgesetzt werden. Vielmehr geht es in diesem Kontext um die wirtschaftlichen
Risiken der Betreiber. Man liest unmittelbar anschließend,
daß (S. 17, Sp. 2) die Elektrizitätsunternehmen durch
die Kosten der Sicherheitsüberprüfung nicht unzumutbar
belastet werden, weil sie z.T. durch die erzielte Erhöhung
der Verfügbarkeit der Anlagen kompensiert werden. Das heißt:
Wenn aufgrund der durch die PSÜ gewonnenen Erkenntnisse Mängel
in einem Atomkraftwerk früher entdeckt und behoben werden,
können die Stillstandszeiten, die sich aus nicht einkalkulierten,
unvorhergesehenen notwendig werdenden Reparaturen, und die damit
verbundenen Kosten erheblich vermindert werden. Aus Sicht der Betreiber
ist die PSÜ geeignet, die Wirtschaftlichkeit der einzelnen
Atomkraftwerke besser zu kontrollieren.
Die PSÜ erreicht nicht
den hohen Standard des geltenden Gesetzes. Sie entspricht nicht
den Anforderungen der Kalkar-Entscheidung. In dem beabsichtigten
neuen Gesetz würde durch sie das einzuhaltende Sicherheitsniveau
definiert. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Kalkar-Entscheidung
eine solche Fixierung des Sicherheitsstandards verworfen, weil durch
sie die nach dem jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik angemessene
Sicherung der Grundrechte eher gehemmt als gefördert würde.
Mit den Auswirkungen der PSÜ
korrespondiert die Streichung von § 7 Abs. 2a. Zwar wird der Neubau
von Atomkraftwerken verboten. Mit der vollständigen Streichung
von § 7 Abs. 2a wird jedoch der Hinweis auf den Stand von Wissenschaft
und Technik die Erkenntnisse über Kernschmelzunfälle,
die der Gesetzgeber 1994 in § 7 Abs. 2a Satz 1 als Genehmigungsvoraussetzung
für neue Atomkraftwerke bereits anerkannt hatte, aus dem Gesetzestext
ausgelöscht. Damit wird die Beschränkung des Sicherheitsstandards
auf das Niveau der PSÜ noch verstärkt.
Das zeigt sich unmittelbar an
den Auswirkungen beider Regelungen auf die Handlungsmöglichkeiten
der Atomaufsicht.
Wieder kann man auf Philippsburg
2 verweisen. Bisher kann die Aufsichtsbehörde im Rahmen der
staatlichen Aufsicht anordnen, daß und welche Schutzmaßnahmen
zu treffen sind; sie kann - auch - anordnen, daß ein Zustand
beseitigt wird, aus dem sich durch die Wirkung ionisierender Strahlen
Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben
können.
Wäre die PSÜ schon
Gesetz, dann wäre die Aufsicht nicht frei, den heute geforderten
Stand von Wissenschaft und Technik durchzusetzen. Sie könnte
nur die Einhaltung der Standards der PSÜ anordnen. Sobald der
Betreiber die entsprechenden Auflagen erfüllt hat, müßte
der Weiterbetrieb der Anlage erlaubt werden. Es kann keine Rede
davon sein, daß dies eine Effektivierung der Atomaufsicht
im Sicherheitsinteresse der Bevölkerung wäre.
Die Einführung der PSÜ
wird der Öffentlichkeit gegenüber mit hohen Hoffnungen
verbunden. Man traut ihr zu, sie könne die Sicherheitssituation
nur verbessern. Auch diese Auffassung kann nur gedeihen auf der
zugrundeliegenden Vorstellung, es habe bisher keine Beschränkung
des Bestandsschutzes der Atomkraftwerke gegeben. Verglichen mit
den Absichten, die der Gesetzgeber zur Zeit des Erlasses des Atomgesetzes
in Hinsicht auf die Schutzwirkung des Gesetzes verfolgte, erweist
sie sich als ein Schritt weit hinter den damaligen Anspruch zurück.
Für die Erteilung von Änderungsgenehmigungen,
die sich aus den Ergebnissen der PSÜ ergeben, bleibt eine Genehmigungsregelung
erforderlich. Deshalb wird der § 7 Abs. 2 Satz 3 beibehalten. Zwar
wird sein Wortlaut, aus dem sich bisher die Verfassungsmäßigkeit
des Atomgesetzes ableitete, nicht verändert. Scheinbar ändert
sich nichts. Der Paragraph wird jedoch durch das Zusammenwirken
der neuen Regelungen, durch die die Umsetzung der Erkenntnisse über
Kernschmelzunfälle verhindert wird, seiner dynamischen Schutzwirkung
für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
vollständig entkleidet und in ein bloßes Werkzeug zur
Absicherung von Produktionsrechten der Betreiber umgewandelt.
Zu den Entsorgungsproblemen
mache ich nur einige Anmerkungen
Die erheblichen Vorteile für
die Lösung der Entsorgungsprobleme durch sofortige Beendigung
der Stromproduktion in Atomkraftwerken werden nicht genutzt.
Die neu zu errichtenden Interims-
und Zwischenlager an den Atomkraftwerksstandorten sind als Folge
der Stromproduktionsgarantie notwendig. Der Druck, der während
der bereits jetzt durchgeführten Genehmigungsverfahren auf
die betroffenen Bürgerinnen und Bürger ausgeübt wird,
soll durch das neue Gesetz noch nachträglich legitimiert werden.
Das ist mit einem Verfassungsverständnis, das den Bürgern
Rechtsschutzrechte sichert, nicht zu vereinbaren.
Schon 1994 anerkannte der Gesetzgeber,
daß die Wiederaufarbeitung nicht in ein Konzept paßt,
das vom Schutz vor den Gefahren ausgeht. Nun soll sie als Notlösung
erlaubt werden, bis die Zwischenlager betriebsbereit sind.
Durch Geringhalten der Menge
der endzulagernden Abfälle würde die Suche nach einem
geeigneten Endlager erheblich erleichtert.
8.
Zusammenfassung:
Das beabsichtigte
Gesetz ist nicht verfassungsgemäß
Die PDS stellt Frage 20.: "Kann
der gesellschaftspolitische Grundkonflikt um die Kernkraft mit dieser
Gesetzesänderung beigelegt werden?" Auch dies ist eine grundsätzliche
Frage.
Sie muß entdchieden verneint
werden. Wegen der Auswirkungen auf das Gefüge der Verfassunsgarantien
wird der Konflikt eher verschärft. Eine Lösung muß
in ganz andere Richtung gehen.
Mit der Reststrommengen-Regelung
ist die Entscheidung über den Zeitpunkt der Beendigung in die
Hand der Atomwirtschaft gegeben. Durch die Einführung der PSÜ
als Kontrollinstrument der Wirtschaftlichkeit der einzelnen Anlagen
wird sie in ihrer Wirkung noch unterstützt. Bis zur endgültigen
Abarbeitung der Produktionsrechte, so wird auch in der Begründung
versichert, (S. 16, Sp. 1) stellt die Vereinbarung zusammen mit
diesem Gesetz nach Überzeugung beider Seiten sicher, "dass
den Betreibern die Amortisation ihrer Investitionen ermöglicht
und darüber hinaus ein angemessener Gewinn erzielt werden kann";
sie schafft "wichtige Voraussetzungen, um langfristig die Rechts-
und Planungssicherheit der Unternehmen zu verbessern. Die Maßnahmen
tragen in hohem Maße zum Vertrauensschutz bei. Daraus folgt,
dass es sich bei dieser Vereinbarung um ein ausgewogenes, die Interessen
der Betreiber umfassend berücksichtigendes "Gesamtpaket" handelt".
Das Recht der Bürgerinnen
und Bürger auf Schutz von Leib und Leben gegen die Gefahren
der Atomenergie fehlt nicht nur im Titel des neuen Gesetzes. Er
wird durch das Zusammenwirken der beabsichtigten einzelnen Regelungen
aus dem Gesetz selbst eliminiert.
Die Vereinbarung vom 14. Juni
2000 beruht auf einer Selbstverpflichtung der Industrie. Sie ist
ein Vertrag zu Lasten Dritter und damit rechtswidrig. Gesetzliches
Unrecht zu schaffen sollten sich Parlamentarier - erst recht heute
- zu schade sein.
Wenn der Gesetzgeber dieses
Gesetz beschließt, verfährt er weder plausibel, denn
statt den Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche
Unversehrtheit auf Grund des neuesten Erkenntnisstandes zu verbessern,
verhindert er seine Durchsetzung, noch handelt er willkürfrei,
denn er sichert einseitig die wirtschaftlichen Interessen der Atomwirtschaft
durch Abweisung der Schutzinteressen der betroffenen Bürgerinnen
und Bürger.
Die beabsichtigten Regelungen
werden fundamentiert mit Hilfe eines juristisch-argumentativen Tricks,
durch den die Verfassungsgarantie des Vorrangs von Leib und Leben
vor der Eigentumsnutzung unterdrückt wird.
Was hier geschieht, beleuchten
krass die jetzt nach und nach ans Licht kommenden Vorgänge
um das Atomkraftwerk Philippsburg 2. Man darf getrost die Vermutung
aussprechen, daß es dieselben Denkstrukturen sind, die sich
hinter den schwerwiegenden Mängeln in der Sicherheitskultur
und dieser juristischen Argumentationsweise auftun: Vom mangelhaften
Sicherheitsbewußtsein quer durch die Hierarchien der Betreiber
(BMU, 7. Oktober 2001), belegt durch jahrelange bewußte Mißachtung
grundlegender Sicherheitsbestimmungen durchs Personal, Verletzung
der Aufsichtspflichten durch Vorgesetze, Gutachter und zuständige
Behörde, hin zu jahrelang erfolgreichen, systematisch betriebenen
Versuchen, die Schutzwirkung des geltenden Atomgesetzes zu umgehen
bis hin zur bewußt beabsichtigten Aushebelung von Verfassungsprinzipien.
Das "Mäntelchen des Gesetzes"
über ein solches Vertragswerk zu legen unterhöhlt das
gesamte - auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Willkürfreiheit
und Plausibilität - angelegte Rechtssystem und geht damit noch
weit über den Versuch der früheren Regierungsmehrheit
der Stabilisierung der bestehenden Betriebe durch die Atomrechtsnovelle
1994 hinaus.
Der vorliegendeGesetzentwurf
muß zurückgewiesen werden. Korrekturen an den übrigen
Regelungen unter Beibehaltung von Reststrommengen-Regelung und gesetzlicher
Fixierung des Schutzziels auf einen vom Stand von Wissenschaft und
Technik längst überholten Niveau vermögen das Grundkonzept
des beabsichtigten neuen Gesetzes nicht zu ändern.
Soweit es die Notwendigkeit
von Verbesserungen gibt, kann der Gesetzgeber diese veranlassen,
ohne daß Verfassungsgarantien außer Kraft gesetzt werden.
Zu diesen Verbesserungen gehört aus Sicht der Bürgerinnen
und Bürger die Wiederherstellung grundlegender Mitwirkungsrechte,
z.B. durch Aufhebung der Veränderungssperre der §§ 9d bis 9f
für die angestrebte Erkundung von neuen Endlagerstandorten.
Der Schutz des Grundrechts auf
Leben und körperliche Unversehrtheit kann nur verbessert werden
durch die konsequente Durchsetzung des Schutzzwecks des geltenden
Atomgesetzes.
Der sofortige Ausstieg aus der
Atomenergie ist und bleibt das Gebot der Stunde.
Eine Gesellschaft, die sich
demokratisch denkt, muß gegen alle Machtinteressen auf der
Durchsetzung der Verfassungsgarantien beharren.
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